Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2014
Kasuistik
Der Patient erkrankte am 7. November mit Engegefühl im Brustbereich, suchte deshalb am 11. November die Hausarztpraxis auf und berichtete über ein „drückendes Gefühl in der Brust“. Bekannt war eine Linksherzinsuffizienz. Nach Angaben der Hausärzte hatte er aufgrund einer erhöhten Temperatur die Befürchtung, an der Schweinegrippe erkrankt zu sein. Die klinische Untersuchung erbrachte bei Herz, Lunge und hinsichtlich des Blutdrucks normale Werte. Es bestand eine Druckschmerzhaftigkeit im Bauchraum. An diagnostischen Veranlassungen wurde die Laboruntersuchung eines kleinen Blutbildes und des CRP-Wertes veranlasst sowie ein EKG erstellt. Der maschinell ausgewertete EKG-Befund zeigte gegenüber einem im Januar 2012 abgeleiteten EKG deutliche Unterschiede, die auf ein Durchblutungsstörungsgeschehen im Herzkranzgefäßbereich hindeuteten. Als weiterer Vorstellungstermin war der 16. November geplant. Wegen Verschlechterung des Gesundheitszustandes stellte sich der Patient jedoch bereits am 13. November erneut in der Praxis vor. Anlässlich dieser Konsultation standen Beschwerden des Bauchraums im Vordergrund, so dass eine hierauf gerichtete klinische Untersuchung erfolgte, die bis auf eine erhöhte Luftfüllung des Darms keine krankhaften Befunde ergab. Da sich der Zustand des Patienten am 13. November zunehmend verschlechterte, erfolgte die stationäre Einweisung über den Rettungsdienst. Der Patient erreichte die Klinik im kardiogenen Schock, einem Lungenödem und einem akuten Ereignis mit Krampfen und Kreislaufstillstand. In der Folge konnte die Herztätigkeit und eine ausreichende Kreislauffunktion zwar wiederhergestellt werden, es blieb aber ein hypoxischer Hirnschaden. Nur durch erhebliche intensivmedizinische Maßnahmen überlebte der Patient.
Die Angehörigen des Patienten tragen vor, die Differenzialdiagnose eines akuten Koronarsyndroms hätte bereits bei der ersten Vorstellung am 11. November durch sofortige Klinikeinweisung geklärt werden müssen. Auch bei der zweiten Konsultation am 13. November sei keine ausreichende Diagnostik erfolgt. Die Hausärztin trägt vor, sie habe die Befunde im Sinne eines grippalen Infektes gewertet. Diese seien nicht als typisches Zeichen des Herzinfarktes zu werten.
Gutachten
Der Gutachter kam zu der Auffassung, dass die Behandlung in der Gemeinschaftspraxis nicht den anerkannten Regeln der ärztlichen Heilkunde entsprach und als fehlerhaft gewertet werden müsse. Insbesondere das Nichterkennen des pathologisch veränderten EKG habe zur konsekutiven Fehleinschätzung der Situation im Wesentlichen beigetragen. Es hätte unabhängig vom EKG bereits am 11. November in Anbetracht der Vorgeschichte differenzialdiagnostisch der dringende Verdacht auf das Vorliegen einer vom Herzen ausgehenden Beschwerdeursache gestellt und eine unverzügliche Klinikeinweisung hätte erfolgen müssen.
Der Gutachter führt unter anderem aus, dass bei der vorliegenden Symptomatik bei diesem Patienten die Arbeitsdiagnose „Verdacht auf einen Myokardinfarkt“ gestellt werden musste. Aufgrund der bei einem Myokardinfarkt vorliegenden lebensbedrohlichen Gefährdung des Patienten ergab sich damit auch die Verpflichtung zur unverzüglichen Einleitung einer kontinuierlichen Überwachung der Vitalfunktionen und der Bereitstellung einer sachgerechten sofortigen Therapie bei Eintritt von Komplikationen. Nach Erläuterung des Gutachters sollten bei ärztlich beobachteten Herz-Kreislauf-Stillständen mit unverzüglicher Reanimation keine wesentlichen neurologischen Spätschäden auftreten. Hinsichtlich der Kausalität stellt der Gutachter fest, dass der hier vorliegende hypoxische Hirnschaden mit größter Wahrscheinlichkeit vor der Aufnahme im Krankenhaus entstanden ist. Eine für das Entstehen eines solchen hypoxischen Hirnschadens erforderliche Minderdurchblutung des Gehirns kann durchaus während des aufgetretenen Herz-Kreislauf-Stillstandes zustande gekommen sein.
Auch bei richtigem ärztlichem Handeln wäre nach der Reanimation eine PTCA und eine nachfolgende stationäre Behandlung erforderlich gewesen. In Abhängigkeit vom Umfang des durch den Infarkt zugrunde gegangenen Herzmuskelgewebes musste mit einer reduzierten Leistungsfähigkeit des Herzmuskels gerechnet werden, davon abhängig mit einer beeinträchtigten körperlichen Leistungsfähigkeit des Patienten. Erfahrungsgemäß hätten aber alle Tätigkeiten des täglichen Lebens uneingeschränkt ausgeführt werden können.
Der schwere hypoxische Hirnschaden muss als allein fehlerbedingt aufgetreten angesehen werden. Hieraus resultieren alle Beeinträchtigungen der geistigen Leistungsfähigkeit, der Arbeitsfähigkeit, die vorliegende Pflegebedürftigkeit sowie die Bedürftigkeit einer Betreuung des Patienten. Der Gutachter geht davon aus, dass die Pflegebedürftigkeit lebenslang bestehen bleibt. Die Behandlungspflichtigkeit der vorliegenden koronaren Herzerkrankung ist durch Behandlungsfehler nicht beeinflusst worden.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Am Patienten erfolgte eine erhebliche intensivmedizinische Behandlung wegen seiner erlittenen mehrfachen Herzinfarkte. Vorausgegangen war die Behandlung durch die hausärztliche Gemeinschaftspraxis, bei der er sich am 11. November mit Beschwerden im Brust- und Halsbereich sowie erhöhter Temperatur vorstellte. Zu den Aufgaben des Hausarztes gehört es, bei neu aufgetretenen Beschwerden ein breites differenzialdiagnostisches Spektrum vorzuhalten, um dann eine diagnostische Eingrenzung unter Ausschluss der gefährlichen Möglichkeiten vorzunehmen. Dies ist insofern in der Praxis geschehen, als die Möglichkeit eines Herzinfarktes beziehungsweise eines koronaren Syndroms in Betracht gezogen wurde, worauf die EKG-Ableitung hinweist. Der Ausschluss eines koronaren Geschehens war jedoch unvollständig. Das EKG wurde in der Praxis fehlerhafter Weise als unauffällig gewertet. In Anbetracht der klinischen Beschwerden und der Vorgeschichte des Patienten hätten aber in jedem Falle weitere Ausschlussmöglichkeiten, zum Beispiel ein Troponin-Schnelltest oder bei fehlendem entsprechenden Zugang eine stationäre Einweisung, erfolgen müssen. Die Wiedereinbestellung des Patienten erst drei bis vier Tage später ist als fehlerhaft zu bewerten. Dem Hausarzt stehen aus der Krankengeschichte in der Regel auch Aussagen über allgemeine Risikofaktoren zur Verfügung. Hier lagen ein erhöhter Blutdruck, erhöhte Blutfette und einmal gemessenes Abweichen von der Norm des Blutzuckerspiegels vor. Auch dies hätte den Verdacht auf ein koronares Geschehen unterstützen müssen. Im vorliegenden Fall sind unabhängig von der fehlerhaften Bewertung des EKG Mängel in der Befunderhebung festzustellen.
Eine fehlerhafte Unterlassung der medizinisch gebotenen Befunderhebung führt dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Schaden, wenn sich bei der gebotenen Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und wenn sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (vergleiche BGH NJW 2004, 1871 ff).
Man hätte bei Durchführung eines Troponin-Tests beziehungsweise der Einweisung ins Krankenhaus am 11. November einen Myokardinfarkt festgestellt. Dann nicht umgehend zu behandeln, würde einen schweren Behandlungsfehler darstellen. Ein schwerer Behandlungsfehler, der generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, führt grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem primären Gesundheitsschaden. Vorliegend war der dargelegte Mangel in der Befunderhebung generell geeignet, den schweren hypoxische Hirnschaden herbeizuführen und als allein fehlerbedingt anzusehen.
Fazit
Bei der Bildung einer Arbeitsdiagnose muss der Grundsatz gelten, zunächst abwendbar gefährliche Verläufe zu bedenken und auszuschließen, beziehungsweise zu verifizieren. Stellt bei einem Befunderhebungsmangel das Nichtreagieren auf einen solchen theoretisch reaktionspflichtigen Befund einen schweren Behandlungsfehler dar, so kommt es zur Beweislastumkehr zugunsten des Patienten. Der Behandlungsfehler muss dann nur noch generell geeignet sein, den bestehenden Schaden herbeizuführen.