Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 5/2013
Kasuistik
Der 45-jährige Patient stellte sich wegen wiederkehrender Schmerzen in der Rücken- und Schultermuskulatur sowie Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich in der Praxis eines Facharztes für Allgemeinmedizin vor. Wegen der Beschwerden waren bereits manualtherapeutische Behandlungen ohne hinreichende Besserung erfolgt. Es wurde eine neuraltherapeutische Maßnahme in Form von zwei Injektionen an den Nervus suprascapularis durchgeführt. Einige Stunden später klagte der Patient über Luftnot, Atembeschwerden und Schweißausbrüche, woraufhin der Allgemeinmediziner die sofortige Krankenhauseinweisung unter dem Verdacht eines Pneumothorax vornahm. Unter der stationären Behandlung kam es zu einer vollständigen Entfaltung der Lunge und der Patient konnte drei Tage später wieder entlassen werden.
Der Patient ist der Ansicht, dass der Arzt fehlerhaft vorgegangen sei. Von den beiden verabreichten Injektionen wegen Schmerzen der Nackenmuskulatur müsse eine fehlerhaft gewesen sein, wodurch ein Pneumothorax eingetreten sei.
Der Allgemeinmediziner entgegnet, dass der Patient wegen erheblicher Muskelverspannungen im Bereich des M. trapezius wiederholt in der Praxis gewesen sei. Alle vorher durchgeführten Behandlungen seien erfolglos gewesen, weshalb er zwei Injektionen in der Absicht, damit den Nervus suprascapularis als Schmerzursache auszuschalten, vorgenommen habe. Es sei 1 %iges Procain injiziert worden. Einige Stunden später habe er bei entsprechenden Beschwerden des Patienten unter dem Verdacht eines Pneumothorax die sofortige Krankenhauseinweisung vorgenommen.
Gutachten
Das ärztliche Vorgehen sei in mehrerer Hinsicht zu bemängeln. Zum einen fehle eine aussagekräftige Dokumentation, die den tatsächlichen Befund sowie insbesondere auch eine Information des Patienten hinsichtlich der hier eingetretenen (häufigen und typischen) Komplikation ausweise. Es seien den Unterlagen Mängel in der Befunderhebung oder der Dokumentation zu entnehmen. Eine Indikation zu einer therapeutischen Anästhesie habe mit Einschränkungen hinsichtlich etwaiger internistischer Ursachen der Schulterschmerzen vorgelegen. Aufgrund der dem Allgemeinmediziner bekannten langjährigen Vorgeschichte habe er von einer orthopädischen Problematik ausgehen dürfen. Angesichts der Tatsache, dass es zu einem Pneumothorax als Folge der Injektion gekommen war, sei davon auszugehen, dass die Injektion nicht entsprechend den Regeln durchgeführt worden sei. Dieser Fehler hätte jedoch nach Auffassung des Gutachters nicht vermieden werden können, da die anatomischen Strukturen von außen nicht erkennbar seien, gleichwohl so gelegen seien, dass bereits bei geringfügigen Abweichungen zum Beispiel in der Injektionstiefe der eingetretene Schaden erfolgen könne.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Anhand der Eintragungen war davon auszugehen, dass wegen der Beschwerden bereits manualtherapeutische Bemühungen ohne hinreichende Besserung erfolgt waren. Angaben, in welcher Region genau die Beschwerden bestanden, enthielt die Dokumentation nicht. Auch für den Fall, dass die Beschwerden in der gleichen Region bestanden hätten, lag keine Indikation für die Durchführung der gewählten neuraltherapeutischen Maßnahme vor. Wenn auch im Vorfeld bereits mit anderen Mitteln versucht wurde, den Beschwerden therapeutisch entgegenzutreten und dies erfolglos blieb, so waren damit noch nicht alle nichtinvasiven Möglichkeiten ausgeschöpft worden. Das Spektrum der modernen Schmerztherapie sieht weitere Behandlungsstufen vor, wie zum Beispiel eine weitergehende Ausschöpfung physikalischer Maßnahmen oder entsprechend den empfohlenen Schemata der Arzneimittelschmerztherapie.
Auf den Umstand, dass aus den Unterlagen eine entsprechende Risikoaufklärung nicht ableitbar war, kam es für die Bewertung der Haftungsfrage angesichts der fehlenden Indikation nicht an. Auch nicht darauf, dass der Gutachter einerseits von der Verletzung des Lungenfells auf eine fehlerhafte Durchführung einer Injektion schloss, andererseits aber betonte, dass ein derartiger Fehler nicht immer vermieden werden könne. Der Anscheinsbeweis, den der Gutachter hier als geführt ansieht, kommt dann nicht zur Anwendung, wenn für die Verursachung des Schadens auch andere, selbst weniger wahrscheinliche Ursachen (hier zum Beispiel veränderte anatomische Verhältnisse) in Betracht kommen könnten.
Bei korrektem Vorgehen wären nichtinvasive schmerzlindernde Methoden im Schmerzbereich zur Anwendung gekommen, die geeignet gewesen wären, die Beschwerden zu lindern und nicht zum Pneumothorax und dem Krankenhausaufenthalt geführt hätten.
Fazit
Der Arzt ist nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt, denn das Patienteninteresse ist in erster Linie auf Befreiung von Krankheit, nicht auf größtmögliche Sicherheit ausgerichtet. Ein höheres Risiko muss aber durch besondere Sachzwänge des konkreten Falls oder durch eine günstigere Heilungsprognose gerechtfertigt sein und mit dem Patienten ausführlich erörtert werden (BGH VersR 1988,82; OLG Frankfurt VersR 1998, 1378).