Severe Wound Healing Disorder from Chronic Nutritional Deficiency-Treatment Error but no Liability
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 12/2008
Kasuistik
Eine 34-jährige Frau litt an einem schweren chronischen Ernährungsmangelzustand: BMI 12,3, laborchemisch globaler Eiweißmangelzustand. Eine vorausgegangene klinische Behandlung war erfolglos geblieben. Nach Darstellung der Patientin zog sie sich eines Tages während eines Krampfanfalls eine Schnittverletzung am rechten Unterschenkel durch ein Marmeladenglas zu. Eine ärztliche Befunderhebung oder Behandlung erfolgte zunächst nicht.
Etwa drei Wochen später stellte sich die Patientin in einer chirurgischen Klinikambulanz vor, wo folgender Befund erhoben wurde: „Schnittverletzung rechter Unterschenkel vor cirka drei Wochen, Wunden reizlos, diskret induriert, unklare Schwellung rechtes oberes Sprunggelenk.“ Eine Behandlungsempfehlung wurde nicht dokumentiert. Anschließend erfolgte über sieben Monate eine ununterbrochene Behandlung des Befundes am rechten Unterschenkel durch einen niedergelassenen Chirurgen. Als Erstbefund wurde eine „offene Wunde“ am rechten Unterschenkel notiert. Nach sieben Monaten wechselte die Patientin den behandelnden Arzt. Als Ausgangsbefund wurde jetzt ein sechs mal drei Zentimeter großes verschorftes Ulcus festgestellt. Der weiterbehandelnde Chirurg wies die Patientin zur operativen Behandlung in eine Chirurgische Klinik ein, wo es innerhalb von zwei Monaten zu vier plastisch-chirurgische Operationen kam, letztlich erfolgte die Defektdeckung mit gestieltem Muskelhautlappen. Auch nach diesem Eingriff vergingen bis zur endgültigen Abheilung der Wunde noch weitere fünf Monate.
Die Beschwerdeführung richtet sich gegen den erstbehandelnden Chirurgen. Er habe trotz ständiger Verschlechterung der Wundverhältnisse die erforderliche und von der Patientin ausdrücklich gewünschte operative Behandlung langfristig hinausgezögert.
Der in Anspruch genommene Arzt kommentierte seine Behandlungsmaßnahmen in einer ausführlichen Stellungnahme, seine Darlegungen korrespondierten jedoch weitgehend nicht mit der sehr spärlichen aktuellen Behandlungsdokumentation.
Aus dem Gutachten der Schlichtungsstelle
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter gelangte zu folgenden Feststellungen: Die Ausgangssituation bezüglich der Verletzung am rechten Unterschenkel sei aufgrund der unterbliebenen Erstbehandlung nicht zu beurteilen. Die Behandlungsdokumentation des niedergelassenen Chirurgen sei äußerst mangelhaft. Es würden Befunddarstellungen sowohl zu Beginn als auch im weiteren Verlauf speziell zur Lokalisation, Ausdehnung und Beschaffenheit der Wunde ebenso fehlen wie Angaben zu Therapiemaßnahmen und bakteriellen Untersuchungen. Der hochgradige Ernährungsmangelzustand mit einem BMI von 12,3 wäre offensichtlich. Es seien unterschiedliche Oberflächenbehandlungen ausgeführt worden, ohne dass diese näher bezeichnet wurden. Ein Heilungseffekt sei nicht eingetreten. Nachdem schon nach kurzer Zeit keinerlei Heilungstendenz erkennbar war, hätte eine stationäre Einweisung zur plastisch-chirurgischen Wundbehandlung erfolgen müssen. Des weiteren habe der Arzt in dem langen Zeitraum seiner Behandlung keine weiterführende Diagnostik bezüglich einer systemischen Ursache der Wundheilungsstörung veranlasst. Die Unterlassung jeglicher Maßnahmen, die zur Klärung der Wundheilungsstörung und zum Heilerfolg hätten führen können, werde als Behandlungsfehler gewertet. Daneben sei die mangelhafte Dokumentation zu beanstanden.
Aus der eindeutig fehlerhaften Behandlung des Chirurgen lasse sich im hier zu beurteilenden Fall die haftungsausfüllende Kausalität, mithin ein Schadenersatzanspruch, nicht begründen. Es bestand ein schwerstgradiger chronischer Ernährungsmangelzustand, frühere stationäre Behandlungen wären erfolglos geblieben. Dieser Zustand hätte wesentlich zum Ausbleiben der Wundheilung beigetragen. Nach einer wiederholt unter stationären Bedingungen einsetzenden, konsequenten chirurgischen Wund- und Allgemeinbehandlung wären noch weitere acht Monate bis zu endgültigen Heilung vergangen. Dies beweise, dass für die Wundheilungsstörung eine systemische Ursache wesentlich mitbestimmend war. Vor diesem Hintergrund könne nicht eingeschätzt werden, wie der Heilverlauf bei korrekter Behandlung durch den erstbehandelnden Chirurgen verlaufen wäre. Insbesondere bleibe zweifelhaft, ob der Verlauf unter stationären Bedingungen verkürzt worden wäre oder der Patientin die plastischen Operationen erspart geblieben wären.
Die Schlichtungsstelle folgte den Wertungen des Gutachters. Eine Prüfung hinsichtlich möglicher artifizieller Ursachen der Wundheilungsstörung war im Schlichtungsverfahren nicht möglich. Selbst angesichts des Dokumentationsmangels und aus der über sieben Monate andauernden ergebnislosen Behandlung ohne Veranlassung weiterer zielführender Maßnahmen ließen sich im hier zu beurteilenden Fall aufgrund der weiteren Umstände keine Schadenersatzansprüche begründen. Eine außergerichtliche Regulierung konnte nicht empfohlen werden.