Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Silikonabdruckmasse im Mittelohr – ein Anscheinsbeweis?

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2013

Kasuistik

Die 75-jährige Patientin suchte wegen Hörproblemen die Praxis eines HNO-Facharztes auf. Dort wurde eine mittelgradige Schwerhörigkeit festgestellt und die apparative Rehabilitation mittels Hörgeräten verordnet. Zu diesem Zweck wurde eine Arzthelferin beauftragt, Gehörgangsabdrücke anzufertigen. Dies gelang auf dem linken Ohr nicht. Zu diesem Zweck reichte die Abdruckmasse nicht aus, so dass neue Abdruckmasse vorbereitet werden musste, die dann in den Gehörgang eingebracht wurde. Die erforderliche Entfernung der ausgehärteten Massen gelang nicht, es verblieb ein erheblicher Teil im Gehörgang, der weder von der Arzthelferin noch von dem HNO-Arzt entfernt werden konnte, so dass eine Überweisung in eine HNO-Klinik erfolgte, wo im Rahmen einer mehrstündigen Operation die Abdruckmasse, die im linken Gehörgang verblieben war, entfernt werden konnte. Dabei zeigte sich, dass Trommelfell links irreparabel zerstört war, und dass auch Teile der Gehörknöchelchen zerstört waren. Das Trommelfell musste durch ein Transplantat ersetzt werden und Gehörknöchelchen durch entsprechende Titanprothesen. Der Geschmacksnerv musste bei dem Eingriff durchtrennt werden. Es verblieben eine hochgradige Störung der Hörfähigkeit links, ein leichtes Druckgefühl, leichte Schwindelanfälle sowie eine unangenehme Oberflächentaubheit im Bereich des äußeren Ohres.

Die Patientin moniert ein nicht sachgerechtes Einbringen der Abdruckmasse in den linken Gehörgang. Hierdurch sei es zu erheblichen Schmerzen, zum Verlust des linken Trommelfells und Teilen von Gehörknöchelchen und zu einer hochgradigen Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr gekommen. Aufgrund des nicht fehlerhaften Vorgehens sei die Lebens-qualität erheblich beeinträchtigt. Außerdem wäre ihr bei korrektem Vorgehen der spätere mehrstündige operative Eingriff erspart geblieben.

Der Arzt schildert, dass sowohl die Lage des Tampons vor dem Trommelfell als auch die Menge der applizierten Abdruckmasse überprüft worden seien.

Gutachten

Die Schwerhörigkeit bei der Patientin sei so ausgeprägt gewesen, dass die Empfehlung zur Anpassung und zum Tragen einer Hörhilfe korrekt gewesen sei. Würde eine Hörgeräteversorgung erforderlich, müsse ein Abdruck genommen werden. Zu diesem Zweck verwende man ein Silikonpräparat. Dieses Material werde zum Teil in den äußeren Gehörgang instilliert und härte dort aus. Bei der Einbringung der Masse müsse beachtet werden, dass vor das Trommelfell – also in den Gehörgang – ein Pfropf beziehungsweise eine Tamponade eingebracht werde, was als Schutz des Trommelfells diene. Die Abdruckmasse könne bei korrekter Platzierung des Pfropfes nicht in das Mittelohr gelangen. Die Anfertigung der Abdrücke setze medizinisch-anatomische und physiologische Kenntnisse und entsprechende handwerkliche Fähigkeiten voraus. Ungeschicktes Hantieren, Überfüllen des Gehörgangs mit Abdruckmasse, falsche Positionierung des Schutzpfropfes könnten zu Komplikationen führen. Keinesfalls dürfe die Silikonmasse hinter das Trommelfell gelangen. Im vorliegenden Fall sei die eingebrachte Masse nicht nur in den Gehörgang gelaufen, sondern habe sich zudem im Mittelohr verteilt. Bei der späteren operativen Revision zur Entfernung der Abdruckmasse habe sich dann gezeigt, dass ein subtotaler Trommelfelldefekt bestanden habe. Die Abdruckmasse habe die gesamte Pauke ausgefüllt und die Gehörknöchelchen sowie die Chorda tympani umschlossen. Die Chorda tympani habe geopfert werden müssen, um die Abdruckmasse komplett zu entfernen. Fernerhin hätten Hammer und Amboss entfernt werden müssen und auf den Steigbügel zur Herstellung der Schalldrucktransformation hätte eine Titanprothese aufgesetzt werden müssen.

Der Gutachter schließt aus dem Verlauf, dass die Einbringung der Abdruckmasse in den linken Gehörgang insgesamt nicht ordnungsgemäß erfolgt sei. Bei einem korrekt vor dem Trommelfell angelegten Schutzpfropf hätte die Komplikation nicht eintreten können. Es handele sich also um eine fehlerbedingt eingetretene Komplikation. Es sei nach Lage der Akten davon auszugehen, dass der Anteil der eingebrachten Masse im Volumen überschätzt beziehungsweise in Unkenntnis des Gehörgangsvolumens zu viel Masse in den Gehörgang gegeben worden sei. Die patientenseits geklagten Beschwerden seien Folge des fehlerhaften Vorgehens der beauftragten Arzthelferin. Es resultiere aus dem Vorgehen eine nahezu praktische Taubheit des linken Ohres und eine Störung des Geschmackvermögens.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Anpassung der Hörhilfe erforderte im vorliegenden Fall die Anfertigung eines entsprechenden Ohrpassstückes. Dazu wurde von einer Arzthelferin die Abdruckmasse in den Gehörgang eingebracht, die sich nur durch einen operativen Eingriff entfernen ließ. Dabei zeigte sich, dass die Abdruckmasse durch das Trommelfell in das Mittelohr gelangt war und dort zu Schäden an der Gehörknöchelchenkette und an der Chorda tympani geführt hatte.

Der Verlauf und der operativ festgestellte Befund sprechen dafür, dass entweder

  • der erforderliche Pfropf nicht eingelegt war oder
  • mangels entsprechender Kontrolle nicht richtig eingelegt war oder
  • die Applikation mit zu viel Druck durchgeführt wurde oder
  • zu viel Abdruckmasse eingebracht wurde.

Jede der vorstehenden Varianten würde ein fehlerhaftes Vorgehen darstellen.

Andere Verursachungsmöglichkeiten waren in diesem Fall nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen, so dass vor diesem Hintergrund das Vorgehen bei der Abdrucknahme als fehlerhaft zu bewerten war. Dadurch wurde ein operativer Eingriff erforderlich, in dessen Folge es zu einer hochgradigen, an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr und zu dem Verlust des Geschmackvermögens gekommen ist.

Fazit

Wenn für bestimmte Maßnahmen in der Praxis besondere Fachkenntnisse und Fertigkeiten notwendig sind, hat der Praxisinhaber sicherzustellen, dass die damit beauftragten Mitarbeiter diese Voraussetzungen erfüllen. Ob die Arzthelferin befähigt war oder nicht, konnte hier ausnahmsweise dahinstehen. Nicht nur die in § 630h BGB erwähnten Konstellationen (voll beherrschbares Risiko, Dokumentationsmangel, mangelnde Befähigung, grober Behandlungsfehler, Befunderhebungsfehler) können zur Beweislastumkehr führen, sondern auch der im Gesetz nicht erwähnte Anscheinsbeweis.

Autoren:

JN

Dr. Johann Neu, Rechtsanwalt

ehemaliger Geschäftsführer der Schlichtungsstelle
für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover