Kasuistik
Ein 26-jähriger Patient war bei drogeninduzierter Psychose stationär psychiatrisch behandelt worden. Gleich nach der Entlassung fügte er sich eine Schnittwunde am linken Arm in suizidaler Absicht zu und wurde zur chirurgischen Versorgung der Chirurgischen Abteilung einer Klinik der Akut- und Regelversorgung zugeführt. Dort wurde er nach akuter Suizidalität befragt. Er verneinte zu diesem Zeitpunkt suizidale Absichten und wurde aufgefordert, sich zu melden, falls es ihm psychisch schlechter gehe. Nach operativer Versorgung verblieb der Patient über Nacht im Aufwachraum. Ab 0.30 Uhr klagte er wiederholt über psychische Probleme und verlangte nach Hilfe. Das betreuende Pflegepersonal erlebte den Patienten als psychisch stark angeschlagen und verständigte den ärztlichen Bereitschaftsdienst. Die Pflege dokumentierte um 1.30 Uhr nachts wörtlich: „keine Reaktion ärztlicherseits erfolgt, Ignoranz der Problematik.“
Der Oberarzt wurde am Morgen gebeten, den Patienten deshalb möglichst früh zu visitieren. Um 9.15 Uhr wurde festgehalten, dass der Patient sehr wortkarg gewesen sei. Weitere Angaben zum psychischen Zustand wurden nicht dokumentiert. Der Patient solle im Aufwachraum bleiben. Unmittelbar darauf öffnete der Patient ein Fenster und sprang hinaus. Beim Sturz zog er sich ein epidurales Hämatom zu, das in einer Notfalloperation entlastet wurde. Dazu kamen ein mittelschweres gedecktes Schädel-Hirn-Trauma mit Kontusionsblutung, ein traumatisches Querschnittsyndrom ab C5 bei HWK-7-Luxationsfraktur, eine Orbitadach- und Seitenwandfraktur und ein Thoraxtrauma mit Brustbeinfraktur.
Bei seiner Entlassung war der Patient voll orientiert bei unauffälliger Bewusstseinslage. Die Motorik an den oberen Extremitäten wies Kraftgrade von 3 bis 5 auf, die unteren Extremitäten waren plegisch. Es bestanden Blasenentleerungsstörungen und Defäkationsprobleme. Eine umfangreiche Hilfsmittelversorgung einschließlich Rollstuhl war erforderlich.
Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen
Patientenseitig wurde das Unterlassen ärztlicher Hilfeleistungen und organisatorischer Maßnahmen zum Schutz des Patienten als grob behandlungsfehlerhaft angesehen.
Stellungnahme Krankenhaus
Der Patient sei bei Aufnahme zur Suizidalität befragt und darauf hingewiesen worden, dass er sich melden solle, damit man ihm helfen könne. Er habe zu diesem Zeitpunkt die Suizidalität verneint.
Gutachten
Der Gutachter, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, hat folgende Kernaussagen getroffen: Hier sei fehlerhaft gehandelt worden. Zwar sei die Suizidalität bei der Aufnahme geprüft worden, dies hätte jedoch in der Folge wiederholt werden müssen. Auch für die morgendliche Oberarztvisite sei eine Prüfung der Suizidalität nicht dokumentiert.
Die Prüfung von Suizidalität sei jedoch nicht ausschließlich Psychiatern vorbehalten. Eine entsprechende Exploration sei vielmehr Gegenstand des Staatsexamenswissens. Aus der Sicht ex ante hätten sich angesichts des schweren Suizidversuchs im Vorfeld der Aufnahme deutliche Hinweise für eine Gefährdung ergeben.
Dem pflegerischerseits mitgeteilten psychischen Zustand des Patienten sei außerdem ärztlicherseits keine Beachtung geschenkt worden. Dass den Bitten des Pflegepersonals, in diesem Fall tätig zu werden, nicht nachgekommen worden sei, sei nicht nachvollziehbar.
Durch diesen zweiten Suizidversuch sei es zu dem Schädel-Hirn-Trauma und einer lebenslang bestehenden hochgradigen Querschnittslähmung gekommen.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle schloss sich dem Gutachten im Ergebnis an. Trotz Bitten des Patienten und des Pflegepersonals erfolgte keine ärztliche Untersuchung in den frühen Morgenstunden. Das ist als fehlerhaft zu bewerten, zumal keine Angaben dazu vorliegen, dass die diensthabenden Ärzte etwa durch eine anderweitige Notfallbehandlung völlig unabkömmlich waren. Dass im Rahmen der Oberarztvisite keine neue Abschätzung der Suizidalität vorgenommen wurde, ist ebenfalls als fehlerhaft zu bezeichnen.
Im vorliegenden Fall waren Mängel in der Befunderhebung festzustellen. Hier kommt es unter folgenden Voraussetzungen zu einer Umkehr der Beweislast zugunsten der Patientenseite:
1. Es wurden Befunde nicht erhoben, die dem Standard gemäß hätten erhoben werden müssen. Es hätte sowohl bei der Aufnahme als auch in der Nacht nach der Operation und am frühen Morgen eine Anamnese bezüglich der psychiatrischen Erkrankung erfolgen müssen.
2. Bei standardgemäßer Untersuchung hätte man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen abklärungs- beziehungsweise behandlungsbedürftigen Befund erkannt. Der Bundesgerichtshof hat den Begriff „hinreichend“ nicht weiter definiert. Die Oberlandesgerichte definieren das Maß aber, unwidersprochen vom Bundesgerichtshof, als überwiegende Wahrscheinlichkeit, also mehr als 50 Prozent. Wäre in den frühen Morgenstunden eine ärztliche Untersuchung – auch durch einen Nichtpsychiater – erfolgt, wäre mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die von den Pflegekräften benannte psychische Notlage erkannt worden.
3. Das Unterlassen der Behandlung in Kenntnis der richtigen Diagnose würde eine erhebliche Standardunterschreitung und damit einen schweren Behandlungsfehler darstellen.
In diesem Fall nicht mit Sicherungsmaßnahmen in Form von zum Beispiel einer Eins-zu-eins-Betreuung zu reagieren, wenn denn schon keine entsprechenden mechanischen Sicherungen an Fenstern und Türen vorhanden sind, würde in Anbetracht der Risiken einen schweren Fehler darstellen.
Vor dem Hintergrund der Beweislastumkehr reicht es für den Kausalitätsnachweis aus, dass die zu unterstellende fundamentale Verkennung des zu erwartenden Befundes oder die Nichtreaktion darauf generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen. Das Unterlassen der oben genannten Sicherungsmaßnahmen war generell geeignet, den Suizidversuch zu ermöglichen. Daher wurden die Verletzungen, die sich der Patient durch den Sturz zugezogen hat, sowie die damit verbundenen Behandlungen und Beeinträchtigungen als fehlerbedingt bewertet.
Fazit
Eine Fixierung hätte nach dem BVerfG-Urteil vom 25.07.2018 (AZ 2 BVR 309/15 und 2 BVR 502/16) jedenfalls heute eine Eins-zu-eins-Betreuung ebenso erforderlich gemacht, auch wenn die Ausdehnung auf nicht psychiatrische Kliniken noch nicht ausgeurteilt ist und die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Zeitpunkt des Schadensereignisses noch nicht vorlag. Eine individuelle Betreuung wäre auch geeignet gewesen, die Ängste des Patienten zu mindern. Aber wenn schon die mechanische Sicherung der Räume nicht gegeben war, hätte auch damals schon mindestens eine kontinuierliche Überwachung des Patienten erfolgen müssen, bis eine Verlegung in eine psychiatrische Klinik hätte durchgeführt werden können.
Auch war der Dokumentation zufolge ein dringender Handlungsbedarf durch den ärztlichen Hintergrunddienst erkennbar. Insofern kam es hier zusätzlich zu einem Organisationsfehler. Die Geschäftsführung der Klinik hat in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Chefärzten sicherzustellen, dass eine Reaktion des Hintergrunddienstes zu jeder Tages- und Nachtzeit auf solche Anforderungen wie in diesem Fall erfolgt. Dies gilt über den Kreis der psychiatrischen Erkrankungen hinaus. Wenn durch Behandler der Hintergrunddienst angefordert wird, muss dieser reagieren. Die Organisation, die dies sicherstellt, gehört haftungsrechtlich in den Bereich des vollbeherrschbaren Risikos. Die Schädigung erfolgte in einem Bereich, dessen Gefahren medizinisch voll beherrscht werden können und müssen. Der Schaden entsteht dann nicht in der „Risikosphäre“ des Patienten, sondern in der des Krankenhauses. Daher besteht eine Fehlervermutung zu Lasten des Krankenhauses. Um sich von dieser Fehlervermutung zu entlasten, ist von Seiten des Krankenhauses zu beweisen, dass der Hintergrunddienst so organisiert wurde, dass er seine Aufgaben erfüllen kann.