Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Übersehene postoperative Blasenentleerungsstörung

Overlooked, Post-operative Voiding Dysfunction

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 04/2005

Kasuistik

Ein 57 Jahre alter Mann wurde in der Chirurgischen Abteilung eines kleineren Krankenhauses an einem schmerzhaften Hämorrhoidalknoten operiert. Die Operation erfolgte in Spinalanästhesie. Bezüglich des Hämorrhoidenbefundes war der Eingriff erfolgreich. Postoperativ traten jedoch starke Blasenschmerzen auf, die auf eine Blasenentleerungsstörung mit Überlaufblase bei Prostataadenom zurückzuführen waren. Die Blasenentleerungsstörung wurde während der 5-tägigen stationären Behandlung nicht festgestellt und behandelt. Bei der Entlassung wurde dem Patienten empfohlen, sich wegen der Blasenbeschwerden bei einem Urologen vorzustellen. Dies geschah am folgenden Tag. Der Urologe stellte sonographisch eine extrem gefüllte Harnblase mit Rückstau und Erweiterung beider Nierenbecken fest. Es erfolgte die Anlage eines suprapubischen Blasenkatheters, über den sich 2000 ml Urin entleerten. Die weiterführende Diagnostik ergab ein Prostataadenom, das erst 3 Wochen später transurethral reseziert wurde. Durch diesen Eingriff wurde die Miktionsbehinderung beseitigt.

Der anwaltlich vertretene Patient trug vor: Man habe in der Chirurgischen Klinik auf seine Angaben über die Blasenschmerzen nicht reagiert. Hierdurch habe er starke Schmerzen ertragen müssen. Als Folge der unbehandelten Blasenentleerungsstörung werden angesehen:

  • Die erlittenen Schmerzen
  • Die Notwendigkeit einer urologischen Operation
  • Die Entwicklung eines Nabelbruches durch das „Urinabpressen“
  • „Zeugungsunfähigkeit“ infolge der urologischen Operation.

Seitens der verantwortlichen Ärzte des betroffenen Krankenhauses wurde zu dem Vorgang Stellung genommen. Den vom Patienten geäußerten Blasen- und Miktionsbeschwerden sei durch entsprechende Medikationen Rechnung getragen worden.

In dem von der Schlichtungsstelle angeforderten chirurgischen Gutachten wurden einleitend die erforderlichen postoperativen/postanästhetischen Überwachungsmaßnahmen erläutert. Zu diesen gehört unabdingbar auch die Überprüfung der Blasenfunktion. Auf den hier zu beurteilenden Fall bezogen trifft der Gutachter folgende Feststellungen: Die postoperativen Blasenschmerzen und Miktionsbehinderungen gehen aus den täglichen Eintragungen im Pflegebericht eindeutig hervor. Ärztliche Verlaufseintragungen fehlen, insbesondere auch Hinweise darauf, daß eine Abtastung des Bauches erfolgt wäre. Diese Untersuchung hätte zweifelsfrei sofort zur richtigen Diagnose und über den Blasenkatheterismus zu Beschwerdefreiheit geführt hat. Die unterlassene Kontrolle der Blasenfunktion – bei dokumentierter Symptomatik! – wird als Sorgfaltsmangel, mithin als vermeidbarer Behandlungsfehler gewertet. Die fehlerbedingten Folgen sieht der Gutachter in den starken Schmerzen durch die Blasenüberdehnung sowie in der Belästigung durch den suprapubischen Blasendauerkatheter.

Der Verfahrensbevollmächtigte des Patienten machte in seiner Stellungnahme zum Gutachten auch die transurethrale Prostataresektion, die Zeugungsunfähigkeit sowie den Nabelbruch als haftungsbegründende Fehlerfolgen geltend.

Die Schlichtungsstelle folgte abschließend den Wertungen des Gutachters. Die erforderliche postoperative Kontrolle der Blasenfunktion wurde fehlerhaft unterlassen, was bei dem im Pflegebericht dokumentierten, richtungsweisenden Beschwerdebild unverständlich ist. Auch hinsichtlich der Folgen des Behandlungsfehlers stimmt die Schlichtungsstelle mit den Aussagen des Gutachters überein. Das Prostataadenom war sicher der entscheidende auslösende Faktor für die postoperativ aufgetretene Blasenentleerungsstörung. Die Operation bzw. die Spinalanästhesie führten lediglich zur Dekompensation der bereits vorbestehenden, durch das Adenom bedingten Blasenentleerungsbehinderung. Die Prostataoperation hätte in jedem Falle durchgeführt werden müssen. Die nach der Operation festgestellte, nicht näher definierte Zeugungsunfähigkeit kann nicht auf die über 6 Tage bestehende Blasenüberdehnung zurückgeführt werden. Bezüglich des Nabelbruches wurden weiterführende Erläuterungen seitens der Schlichtungsstelle notwendig. Ein (erworbener) Nabelbruch entwickelt sich unter den beiden Voraussetzungen

  • Nabelbruchanlage (Faszienschwäche im Bereich des Nabels)
  • Erhöhte chronische Dehnungsbelastung dieser Region, z. B. durch Fettsucht, chronische Verstopfung, Aszites u. a.

Von einer Nabelbruchanlage war auch im vorliegenden Falle auszugehen. Bei fehlender mechanischer Belastung hätte diese Anlage nicht zum Auftreten eines Nabelbruches führen müssen. Aber auch eine maximal über sechs Tage anhaltende mechanische Bauchdeckenbelastung mit Preßvorgängen zur Harnentleerung ist nach dem heutigen Kenntnisstand über die Entstehung von Bauchwandbrüchen kaum geeignet, eine Nabelbruchanlage in einen definitiven Nabelbruch zu überführen, zumindest wäre dies nicht beweisbar. Für diesen Vorgang ist erfahrungsgemäß ein Zeitraum in der Größenordnung von Monaten anzusetzen. Man denke etwa an das „Heraustreten“ des Nabelbruches (bei vorhandener Anlage) bei Schwangerschaft, zunehmender Fettsucht, Aszites). Somit ist auch im vorliegenden Falle unwahrscheinlich, daß sich der Nabelbruch durch die vorübergehende Erhöhung des Bauchdruckes innerhalb von 6 Tagen realisiert hat.

Abschließend hielt die Schlichtungsstelle Schadenersatzansprüche in dem oben dargestellten Rahmen für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover