Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 02/2001
Einleitung
Eine vorzeitige Geschlechtsentwicklung kommt bei beiden Geschlechtern vor und äußert sich, gut erkennbar, durch frühzeitiges (w < als 8 Jahre, m < als 9 Jahre) Wachstum der Schambehaarung und der Brust beim Mädchen bzw. des Penis beim Jungen. Gleichzeitig tritt ein beträchtlicher Wachstumsschub auf, so daß die Kinder ihre Altersgenossen zunächst erheblich überragen. Verursacht werden diese Erscheinungen durch vermehrte Produktion androgener Sexualsteroide, die zunächst eine stark vorauseilende Knochenentwicklung bewirken, dann jedoch zu einem vorzeitigen Epihpysenschluß führen mit der Folge eines frühzeitigen Wachstumsstillstandes und geringer Endgröße. Bei der echten Pubertas praecox, der eine erhöhte Gonadotropin-Sekretion zugrunde liegt, kommen neben der idiopathischen Genese vor allem hirnorganische Prozesse wie Tumoren, insbesondere des Hypothalamus und ein progredienter Hydrocephalus ursächlich in Betracht. Im Gegensatz dazu erfolgt bei der Pseudopubertas praecox (PPP) die Produktion des Sexualsteroids autonom. Beim Knaben sind als Ursache für die vorzeitige Geschlechtsentwicklung vor allem das sog. adrenogenitale Syndrom, Nebennierenrindentumoren und Leydig-Zell-Tumoren des Hodens zu nennen. Hierbei erfährt der Penis zwar eine deutliche Vergrößerung, die Testes bleiben jedoch klein. Allen Formen gemeinsam ist eine gegenüber der Norm erheblich verringerte endgültige Körpergröße (w 140 – 145 cm, m 145 – 150 cm). Da bei den meisten Formen eine gezielte Behandlung möglich ist und die Folgen erheblich gemildert werden können, ist eine frühzeitige Erkennung von großer Bedeutung für die Betroffenen.
Falldarstellung
Die Eltern eines 6 1/2 Jahre alten Jungen mit einer PPP wandten sich an die Schlichtungsstelle mit der Bitte um Klärung der Frage, ob durch Versäumnisse seitens des den Patienten betreuenden Allgemeinarztes die Diagnose der Erkrankung nicht rechtzeitig gestellt wurde. Sie trugen vor, daß sie den Arzt, der das Kind von Geburt an begleitete und auch sämtliche Kinder-Vorsorgeuntersuchungen durchführte, spätestens im Alter von 4 Jahren auf eine deutliche Schambehaarung und ein auffälliges Längen-Wachstum hingewiesen hätten. Mit der Erklärung, daß es sich um eine „Laune der Natur“ handele, sei eine weitere Klärung unterblieben. Anläßlich einer Mutter- und Kindkur sei von den dortigen Ärzten auf eine „Frühreife“ des zu diesem Zeitpunkt 5 1/2 Jahre alten Kindes hingewiesen und eine endokrinologische Diagnostik empfohlen worden. Diese Information hätten sie dem Arzt weitergegeben. Die daraufhin in der Praxis durchgeführten Blutuntersuchungen hätten aber nur normale Werte ergeben. Es sei zwar seitens des Arztes weitere Diagnostik empfohlen worden, ohne daß allerdings entsprechende Schritte eingeleitet wurden. Erst bei einer Wiedervorstellung im Alter von 6 1/4 Jahren sei schließlich auf Drängen der Eltern eine Röntgenaufnahme der Hand zur Bestimmung der Endgröße angefertigt worden. Dabei habe sich ein Knochenalter von 14 Jahren ergeben und bei der weiteren endokrinologischen Diagnostik sei ein adrenogenitales Syndrom nachgewiesen worden. Da wegen der erheblichen Verzögerung der Diagnosestellung der Junge nur eine Endgröße von 150 cm erreichen könne, werden Schadenersatzansprüche gestellt.
Der betreuende Allgemeinarzt bestätigt im wesentlichen die Darstellung der Eltern.
Der Gutachter erklärte, daß der Allgemeinarzt zwar auffällige Befunde, wie z.B. den sprunghaften Anstieg der Körperlänge zwischen der Vorsorgeuntersuchung U 7 (2 Jahre) und U 8 (4 Jahre) dokumentiert, jedoch keinerlei Folgerungen daraus gezogen habe. Andere, schon von den Eltern bemerkte Veränderungen, wie eine spätestens bei der Vorsorgeuntersuchung U 8 vorhandene Schambehaarung und ein verstärktes Peniswachstum seien dagegen nicht notiert worden. Und selbst nachdem andernorts anläßlich des erwähnten Kuraufenthaltes im Alter von 5 1/2 Jahren die Verdachtsdiagnose einer Pubertas praecox geäußert worden war, seien trotz korrekter Beschreibung der entsprechenden klinischen Befunde durch den Arzt bis auf eine allgemeine nicht zielgerichtete Labordiagnostik keine weiteren Schritte zur Klärung unternommen worden. Erst die auf Drängen der Eltern ca. 8 Monate später angefertigte Röntgenaufnahme der Hand, die ein Skelettalter von 14 Jahren bei einem chronologischen Alter von 6 Jahren und 2 Monaten ergab, führte dann zur gezielten endokrinologischen Diagnostik mit dem Ergebnis einer PPP bei adrenogenitalem Syndrom vom Typ des C21-Hydroxylasedefekts. Zu diesem Zeitpunkt lag die Körperlänge um 7 cm über der 97er Perzentile bzw. 18,4 cm über dem Altersdurchschnitt. Bei einer genetischen Zielgröße von ca. 180 cm würde, so ergaben die Berechnungen, wegen des vorzeitigen Epiphysenschlusses nur noch eine Endgröße von ca. 152 cm erreicht.
Der Sachverständige erklärte, daß der Allgemeinarzt angesichts der bei der Vorsorgeuntersuchung U 8 (4 Jahre) erhobenen Befunde eine eingehende Diagnostik hätte einleiten müssen. Zumindest sei die Einholung fachärztlichen Rats dringend geboten gewesen. Es wird also auf fehlerhaftes Handeln erkannt, das zu einem Schaden geführt habe, der in dem erheblichen Verlust an Endlänge gesehen wird.
Kommentar der Schlichtungsstelle
Die in der Schlichtungsstelle tätigen Ärzte und Juristen folgten der Beurteilung des Gutachters und hielten demnach Schadenersatzansprüche für begründet. Über den Einzelfall hinaus beleuchtet die Kasuistik sehr deutlich das Problem mangelnder interdisziplinärer ärztlicher Zusammenarbeit, die nicht selten zu nachteiligen Folgen für die Patienten führen kann. Allgemeinärztliche Tätigkeit schließt selbstverständlich auch die Betreuung von Kindern ein. Wie die Dokumentation des hier in Anspruch genommenen Arztes erkennen ließ, hatte er seine Aufgabe bei diesem Patienten auch überwiegend kompetent erfüllt. Die recht eindeutigen Symptome einer pathologischen Entwicklungsbeschleunigung waren ihm jedoch entgangen bzw. von ihm nicht sachgerecht eingeordnet worden. Entscheidend aber war, daß auch die von anderer ärztlicher Seite gegebenen konkreten Hinweise auf eine Pubertas praecox von ihm nicht beachtet bzw. weiterverfolgt wurden. So kam es wegen mangelnder diagnostischer Sorgfalt und Nichtbeachtung gezielter Hinweise anderer Ärzte zu einer Verzögerung der Klärung des Krankheitsbildes um fast 1 1/2 Jahre und einer entsprechend verspätet einsetzenden Therapie.