Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Unterbliebene Routinediagnostik mit schwerwiegenden Folgen

Erschienen im Nds. Ärzteblatt 10/2016

Kasuistik

Seit Mitte 2013 kam es bei einem bis dahin gesunden 42-jährigen Patienten zunächst zu abdominellen Beschwerden und allgemeinen Gliederschmerzen. Mehrere ärztliche Konsultationen ergaben keinen richtungsweisenden Befund. Zum Winter hin nahmen die Beschwerden zu. Es erfolgte eine gastroenterologische Vorstellung einschließlich einer Koloskopie. Etwa seit Weihnachten kamen Unruhe, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen hinzu, später auch Unruhe in den Beinen und Muskelschmerz. Es wurde an ein Restless-Legs-Syndrom gedacht und entsprechend eine Behandlung mit Restex eingeleitet. Ein ambulantes EKG vom 3. Januar zeigte ungewöhnlich hohe steile T-Wellen. Am 10. Januar stellte sich der Patient dann in einem Psychiatrischen Klinikum vor, wo er unter der Verdachtsdiagnose einer schweren depressiven Episode und einer Somatisierungsstörung aufgenommen wurde. Wegen dort beobachteter zunehmender abdomineller Beschwerden wurde zwischenzeitlich an das Vorliegen einer Noro-Virus-Infektion gedacht, die sich jedoch nicht bestätigte. Begonnen wurde eine antidepressive Medikation mit Venlafaxin. Bei der Oberarztvisite am 16. Januar war der Patient nicht zu explorieren, sehr unsicher auf den Beinen und klagte über Schmerzen im Oberschenkel beidseits. Laut der ärztlichen Aufzeichnungen in der Akte des Klinikums ist dokumentiert: „Am heutigen Tag wurde festgestellt, dass beim Patienten weder Labor noch EEG oder EKG sowie MRT angemeldet waren“. Es erfolgte gegen 11:30 Uhr eine Blutabnahme. Gegen 14:45 Uhr war der Patient dann nicht mehr ansprechbar, hatte maximal geweitete lichtstarre Pupillen und Schnappatmung, so dass das Reanimationsteam hinzugezogen wurde. Das inzwischen eingetroffene Resultat der Labor Laboruntersuchung belegte eine deutliche Hyponatriämie, Hypoglykämie sowie eine Hyperkaliämie und ein deutlich erniedrigter Kortisol-Spiegel, so dass von einer akuten Addison-Krise ausgegangen wurde. Das EEG zeigte zunächst schwerste Allgemeinveränderungen, hatte sich am 26. Januar dann wieder normalisiert. Während ein Schädel-CT vom 26. Januar zunächst verdächtig für einen hypoxischen Hirnschaden nach Reanimation war, bestanden beim neurologischen Konsil vom 31. Januar kein Hinweis auf neurologische Defizite.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Patientenseitig wird vorgetragen, dass Untersuchungen, die im Vorfeld sich anbahnende Addison-Krise hätten erkennen lassen können, zu spät durchgeführt worden seien.

Ärztlicherseits wurde darauf hingewiesen, dass bei der Aufnahme vom Patienten mitgeteilt worden sei, dass die Befunde sämtlicher vorbehandelnder Ärzte, keine wegweisenden Hinweise erbracht hätten. Die psychiatrischen Diagnosen einer schweren depressiven Episode und einer Somatisierungsstörung seien nachvollziehbar gewesen. Der Allgemeinzustand habe sich auch am 16. Januar plötzlich verschlechtert und nicht allmählich.

Gutachten

Für den Gutachter ist die Behandlungsdiagnose einer schweren depressiven Episode nachvollziehbar. Die durchgeführten, auch gastroenterologischen Voruntersuchungen, hätten keine richtungsweisenden Befunde ergeben. Dass innerhalb der ersten Behandlungswoche kein Labor und kein Aufnahme-EKG durchgeführt wurden, sei als Mangel zu werten. Es sei allerdings nicht sicher zu beweisen, dass Elektrolytstörungen in dem Ausmaß, wie sie am 16. Januar im Kontext der Reanimation gefunden wurden, unmittelbar nach Aufnahme auf jeden Fall hätten nachweisbar sein müssen.

Bewertung der Haftungsfrage

Für die Schlichtungsstelle war grundsätzlich nachvollziehbar, dass umfangreichere somatische Untersuchungen im Vorfeld kein richtungsweisendes Ergebnis gezeigt hätten. Die Diagnose einer schweren depressiven Episode und einer Somatisierungsstörung wurde gestellt. Auch im Rahmen einer stationären psychiatrischen Behandlung ist es jedoch erforderlich, dass Routineuntersuchungen, wie ein Aufnahmelabor inklusive Bestimmung der Serumelektrolyte und ein EKG zeitnah durchgeführt werden sollten. Dies gilt umso mehr, als gastrointestinale Beschwerden inklusive Erbrechen und Verdacht auf eine Noro-Virus-Erkrankung das Auftreten von Elektrolytstörungen begünstigen können. Des Weiteren ist wegen der bekannten Gefahr, dass unter antidepressiver Medikation Elektrolytstörungen initiiert werden können, als Ausgangswert vor Aufnahme einer Venlafaxin-Behandlung die Bestimmung der Serumelektrolyte zu empfehlen. Insofern ist es als Fehler zu werten, dass innerhalb von sechs Behandlungstagen keine Labordiagnostik und kein aktuelles EKG vorlagen.

In den Krankenunterlagen findet sich ein EKG vom 3. Januar. In diesem EKG zeigten sich ungewöhnlich hohe T-Wellen in den präkordialen Ableitungen. Dieser Befund spricht für eine ausgeprägte Hyperkaliämie bereits zu diesem Zeitpunkt, die wiederum ein typischer Befund beim Morbus Addison ist. Beim Nachweis der mutmaßlich schon bestehenden Hyperkaliämie hätte es sich um einen reaktionspflichtigen Befund gehandelt. Auch wenn den Unterlagen der Zeitpunkt nicht zweifelsfrei zu entnehmen ist, wann dieses EKG in der Psychiatrischen Klinik vorlag, so kann er doch als Indiz dafür dienen, dass eine fachgerecht durchgeführte Aufnahmelaboruntersuchung und ein EKG nach Aufnahme in die Psychiatrische Abteilung des Klinikums auffällige und reaktionspflichtige Befunde gezeigt hätten.

Die erforderliche Diagnostik wurde zu spät eingeleitet und der eingetretene Herzstillstand mit Reanimationspflicht dadurch begünstigt.

Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass eindeutige Hinweise für das Vorliegen eines Morbus Addison in mehreren Voruntersuchungen nicht erkannt oder nicht richtig interpretiert worden sind. Diese Behandlungen waren aber nicht Gegenstand des Schlichtungsverfahrens.

Dem Standard entsprechend hätten die Ärzte der Psychiatrischen Klinik die vollständigen Untersuchungsbefunde – hierzu zählen insbesondere EKG- und Elektrolytbestimmungen – bei Aufnahme des Patienten selbständig erheben müssen. Ein Abweichen von diesem Standard ist dann möglich, wenn entsprechende Untersuchungen bereits kurzfristig zuvor erfolgt sind und keinen richtungsweisenden Befund erbracht haben. Soweit der Patient den Ärzten des Klinikums mitteilte, dass umfangreiche Untersuchungen bereits erfolgt seien, hätten die Behandler zumindest nachforschen müssen, ob eine Befunderhebung anderen Ortes tatsächlich vollständig durchgeführt wurde und ob sich dabei tatsächlich unauffällige Vorbefunde ergeben hätten. Dass zu diesem Zeitpunkt seitens Klinikums entsprechend recherchiert wurde, ergibt sich anhand der Unterlagen nicht. Das Unterbleiben entsprechender zeitnaher Nachforschungen stellt einen Behandlungsfehler dar.

Dass sich die am 16. Januar dann schließlich bestimmten und für die Addison-Krise typischen Elektrolytwerte innerhalb von sechs Tagen entwickelt haben könnten, ist sehr unwahrscheinlich. Das in der Akte befindliche EKG vom 3. Januar hatte bereits für eine sehr ausgeprägte Hyperkaliämie typische Veränderungen gezeigt. Wären EKG- und Elektrolytbestimmungen am Anfang der Behandlung in der Psychiatrischen Klinik durchgeführt worden oder wären die Ergebnisse der anderen Ortes durchgeführten Diagnostik zeitnah herangezogen worden, hätte entsprechend therapeutisch interveniert werden können und die akute Zuspitzung der Addison-Krise, die dann schließlich zum Herzstillstand führte, mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden werden können.

Gesundheitsschaden

Bei korrektem Vorgehen wäre die Hyperkaliämie kurz nach Aufnahme des Patienten festgestellt und therapiert worden; zu einem Herzstillstand wäre es nicht gekommen.

Fehlerbedingt ist es als Folge der anhaltenden Hyperkaliämie zu einem Herzstillstand mit Reanimationspflichtigkeit und Aufenthalt in der Intensivmedizinischen Abteilung (16.-24.01.) gekommen. Die Addisonerkrankung selbst ist nicht dem Behandlungsfehler zuzurechnen.

Fazit

Befunde aus Voruntersuchungen müssen bei Einleitung einer stationären Behandlung auf ihre Vollständigkeit hin überprüft und ggf. durch eigene Untersuchungen ergänzt und vervollständigt werden. Es reicht nicht aus, sich auf mündliche Angaben von Patientenseite zu verlassen, da nicht unterstellt werden kann, dass dieser beurteilen kann, ob die Befunderhebung vollständig war.

Autoren:

MO

Prof. Dr. med. M. Otte

Facharzt für Innere Medizin
Ärztliches Mitglied
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Dr. med. M. Koller

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Kerstin Kols, Ass. jur.