Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 03/2002
Einleitung
Druckläsionen peripherer Nerven nach Operationen werden patientenseits häufig als Folge vermeidbarer Lagerungsfehler angesehen, mit denen Haftpflichtansprüche begründet werden. Ein typischer lagerungsbedingter Nervenschaden am Arm betrifft den Nervus ulnaris durch Druck auf den Nerven im Bereich des Sulcus ulnaris am Ellenbogengelenk mit den für eine periphere Ulnarisläsion typischen neurologischen Ausfallerscheinungen. Die für Herzoperationen häufig erforderliche mediane Sternotomie kann durch das Aufdehnen der oberen Thoraxappartur zu Läsionen des unteren Armplexus (Segmente C 7 und C 8) durch Überdehnung führen, insbesondere dann, wenn für die Präparation der Arteria mammaria interna zur Verwendung als Bypassgefäß in der Koronarchirurgie die betreffende Seite noch zusätzlich aufgespreizt werden muß. Unter diesen Umständen sind Unterarmplexusläsionen keine Folge von Sorgfaltspflichtverletzungen. Da die neurologischen Ausfälle der unteren Armplexuslä- sion denen der peripheren Nervus-ulnarius-Läsion bis zu einem gewissen Grade ähneln, kommt es häufig zur Fehlbeurteilung des Schadens, die den Patienten veranlaßt, Haftpflichtansprüche zu stellen. Es bedarf dann einer exakten neurologischen Differentialdiagnostik, um einen entschädigungspflichtigen peripheren Nervus ulnaris-Schaden von einem nicht entschädigungspflichtigen unteren Armplexusschaden abzugrenzen.
Kasuistik
Eine 58-jährige Patientin bekommt Herzbeschwerden in Form einer Angina pectoris als Ausdruck einer schweren koronaren Herzkrankheit. Als Risikofaktoren bestehen bei ihr ein schwerer insulinpflichtiger Diabetes mellitus, arterieller Bluthochdruck, ein erhebliches Übergewicht mit einem Body-mass-Index von 33,1 und Hypercholesterinämie. Bei der Herzkatheteruntersuchung wird eine koronare Dreigefäßerkrankung mit hochgradigen Stenosen der rechten und des Ramus interventricularis anterior und des Ramus intermedius der linken Koronararterie festgestellt. Daraus ergibt sich die eindeutige Indikation zur elektiven aortokoronaren Bypassversorgung. Diese erfolgt in Standardtechnik über eine mediane Sternotomie. Weil wegen einer beiderseitigen Unterschenkelvarikosis nur ein Venenstück für eine Bypassbrücke gewonnen werden kann, werden beide Aa. mammarae internae präpariert. Der Operateur vermerkt, daß die Präparation der linken Arteria mammaria interna bei der adipösen Patientin schwierig ist und der Thoraxsperrer für einen ausreichenden Zugang besonders weit aufgespreizt werden muß. Mit den beiden Arterien mammarie und dem Venensegment kann die geplante Bypassversorgung zu allen drei oben genannten Zielgefäßen vorgenommen werden, so daß sich der weitere Verlauf von Seiten des Herzens und des Kreislaufs komplikationslos gestaltet. Begünstigt durch die Risikofaktoren Diabetes mellitus und Adipositas entwickelt sich jedoch eine sternale Wundinfektion mit Sternuminstabilität, die zwei Revisionseingriffe, am 10. postoperativen Tag zur Sternumrestabilisation und nach 6 Wochen zum sekundären Weichteilverschluß, erforderlich machen. Seit dem Primäreingriff klagt die Patientin über Schmerzen in der linken Schulter, die bis in den 4. und 5. Finger links ausstrahlen. Beim ersten neurologischen Konsil am 7. postoperativen Tag, noch während des stationären Aufenthaltes nach der Herzoperation, wird der Verdacht auf eine Läsion der Segmente C 7 und C 8 des Armplexus geäußert. Es folgen widersprüchliche neurologische Diagnosen: Während der Anschlußheilbehandlung in einer Reha-Klinik wird eine inkomplette Schädigung des linken Nervus ulnaris vermerkt. Drei Monate später wird in einer anderen neurologischen Klinik eine kombinierte Läsion von Nervus ulnaris und Nervus medianus links diagnostiziert und zusätzlich wegen einer Schwellung und Bewegungseinschränkung der linken Hand der Verdacht auf eine Sudecksche Dystrophie geäußert. Nach einem weiteren Monat wird bei einer Computertomographie der Halswirbelsäule der Verdacht auf einen Bandscheibenprolaps zwischen 6. und 7. Halswirbel geäußert. Wegen fortbestehender Beschwerden wird die Patientin im 7. Monat nach der Operation zwei Wochen lang in einer neurologischen Klinik stationär behandelt. Hier werden die neurologischen Ausfallerscheinungen wiederum auf eine Schädigung des unteren Armplexus links zurückgeführt. Als Ursache wird eine Druckschädigung infolge operationsbedingter Lagerung vermutet. Die Verdachtsdiagnose einer Sudeckschen Dystrophie wird aufgrund einer Knochenszintigraphie nicht wieder bestätigt. Vier Jahre nach der Operation haben sich die Beschwerden der Patientin nur geringfügig gebessert. Die Patientin wendet sich an die Schlichtungsstelle, weil sie eine ärztliche Fehlbehandlung vermutet. Diese Vermutung gründet sich auf die neurologische Aussage einer lagerungsbedingten postoperativen Nervenschädigung.
Die behandelnden Herzchirurgen berufen sich in ihrer Stellungnahme auf den ersten neurologischen Befund, bei dem eine Läsion der Segmente C 7 und C 8 festgestellt worden sei. Der ursächliche Mechanismus für diese Nervenschädigung sei wahrscheinlich die Präparation der linken Arterie mammaria interna. Der Vorwurf eines Lagerungsfehlers wird zurückgewiesen.
Der neurologische Gutachter kommt unter Berücksichtigung des Krankheitsverlaufs, der neurologischen Vorbefunde und einer eigenen neurologischen Untersuchung zu dem Schluß, daß es sich bei der Patientin um eine Schädigung des unteren Armplexus handelt. Er grenzt sie eindeutig von einer oberen Armplexusschädigung und von einer peripheren Nervus-ulnaris-Läsion ab. Dies ist von Bedeutung, weil die obere Armplexusschädigung lagerungsbedingt durch zu starkes Abspreizen des Armes im Schultergelenk entstehen kann und der periphere Nervus ulnaris eine lagerungsbedingte Druckläsion im Bereich des Sulcus ulnaris am Ellenbogengelenk erleiden kann. Die untere Armplexusläsion ist dagegen eine, auch bei sorgfältigem Vorgehen nicht immer vermeidbare Komplikation der Brustkorberöffnung durch mediane Sternotomie, bei der es durch die Spreizung des Brustbeins und damit der oberen Thoraxapertur zur Überdehnung des unteren Armplexus kommen kann. Im Extremfall kann sogar eine Fraktur der ersten Rippe eintreten und der Unterarmplexus durch das dislozierte Rippen-Fragment direkt verletzt werden. Die Komplikationsrate der Unterarmplexusschäden nach medianer Sternotomie beträgt 2,7 %. Sie erhöht sich auf 10 %, wenn das Brustbein zur Präparation der inneren Brustwandarterie noch stärker aufgespreizt werden muß. Der Gutachter stützt sich bei dieser Aussage auf umfangreiche eigene wissenschaftliche Untersuchungen (1). Leider sei die Kenntnis dieses Schädigungsmechanismus auch in neurologischen Fachkreisen noch nicht allgemein verbreitet, so daß immer wieder fälschlicherweise fehlerfbedingte Lagerungsschäden vermutet werden. Somit bestehe zwar ein kausaler Zusammenhang zwischen der Herzoperation mit medianer Sternotomie und der eingetretenen unteren Armplexusschädigung. Der eingetretene Schaden beruhe jedoch nicht auf einer Sorgfaltspflichtverletzung. Vielmehr habe sich ein typisches, in diesem Falle unvermeidbares Risiko verwirklicht.
Die Schlichtungsstelle schließt sich dem Urteil des Gutachters an, nachdem der Nervenschaden eindeutig als untere Armplexusläsion definiert und von möglichen durch fehlerhafte Lagerung bedingten Schäden wie obere Armplexusläsion oder periphere Nervus-ulnaris-Läsion abgegrenzt werden konnte. Der ursächliche Mechanismus für die untere Armplexusläsion ist die regelrecht ausgeführte mediane Sternotomie. Somit war keine Sorgfaltspflichtverletzung beweisbar.
Literatur:
- Vahl, C.F., Carl I., Müller-Vahl, H., Struck, E.
Brachial plexus injury after open heart surgery: The role of internal mammary artery preparation. A prospective study on 1000 consecutive patients. - J. Thorac, Cardiovasc. Surg 102 (1991), 724-729