Failure to Provide Decubitus Prophylaxis-Error- but not a Liability Claim
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 12/2007
Kasuistik
Der Gesundheitszustand einer 90-jährigen Frau war wesentlich gekennzeichnet durch
- eine zerebro-vaskuläre Insuffizienz mit seniler Demenz und wechselnder neurologisch-psychischer Symptomatik, schwankend zwischen zeitweiser Kooperationsfähigkeit und schwerer Verwirrtheit mit vollständiger Kooperationsunfähigkeit;
- insulinpflichtiger Diabetes mellitus;
- kompensierte chronische Niereninsuffizienz.
In einem Zustand hochgradiger Verwirrung und wechselnder Bewußtseinsstörungen wurde die Patientin in einer Klinik für Innere Medizin stationär aufgenommen und bezüglich der Hirndurchblutungsstörung spezifisch behandelt. Der neurologisch-psychische Befund bildete sich im Laufe der Behandlung weitgehend zurück, so daß die Patientin nach 3 Wochen wieder in häusliche Pflege entlassen werden konnte.
Im Rahmen der stationären Behandlung traten Decubitalulcera am Gesäß und an beiden Fersen auf, die im Laufe des stationären Aufenthaltes nicht zur Abheilung gebracht werden konnten. Die Angehörigen sahen die Ursache der Druckgeschwüre in ärztlichen und pflegerischen Versäumnissen.
Der Vorgang wurde vor Antragstellung bereits durch den zuständigen MDK beurteilt.
In zwei Gutachten gelangte man zu folgender Aussage
Die Behandlungsunterlagen würden bezüglich der Risikoeinschätzung sowie der Dekubitusprophylaxe und -therapie erhebliche Dokumentationsmängel auf weisen. Die spezifischen prophylaktischen Maßnahmen hätten erst nach Auftreten der Ulcera eingesetzt. Die Entstehung der Ulcera sei durch mangelnde Pflege begünstigt worden. Bei rechtzeitigem Einsatz der erforderlichen prophylaktischen Maßnahmen hätte die Entstehung der Druckgeschwüre „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ vermieden werden können. Eine Abwägung zwischen unterlassenen Maßnahmen und primär vorhandenen, unbeeinflußbaren Risiken im Hinblick auf die Auslösung der Decubitalulcera erfolgte in diesem Gutachten nicht.
In einer Stellungnahme verwies der verantwortliche Arzt auf die häufigen Verwirrtheits- und Erregungszustände der Patientin und die hierdurch bedingte Kooperationsunfähigkeit, die eine konsequente Dekubitusprophylaxe unmöglich gemacht hätten. Die Ursache der Ulcera läge in dem vorbestehenden hochgradigen Risikostatus.
Nach Auswertung der Behandlungsunterlagen durch die Schlichtungsstelle konnte der im MDK-Gutachten bezeichnete Dokumentationsmangel weitgehend bestätigt werden. Zu Behandlungsbeginn erfolgte die Risikoeinstufung nach der Waterlowskala (21 Punkte = hohes Risiko). Am 4. Behandlungstag wurden die Decubitalulcera auf einem Formblatt skizziert, Kurveneintrag: „Steißgegend ziemlich stark gerötet“. Ab dem 10. Behandlungstag sind ausreichende prophylaktische Maßnahmen, wie zweistündlicher Lagerungswechsel, Antidekubitusmatratze, dokumentiert. Die Behandlungsunterlagen enthalten eine sehr ausführliche ärztliche und pflegerische Verlaufsberichtserstattung mit täglichen Eintragungen. Aus diesen Eintragungen geht hervor, daß die Patientin infolge ihres psychischen Zustandes nicht kooperationsfähig war. Durchgehend wurden schwere Verhaltensstörungen notiert: Verwirrtheit, lautes Schreien, aggressives Verhalten gegenüber dem Pflegepersonal, Verweigerungshaltung, Lagerung wird nicht eingehalten, usw.
Aus der Behandlungsdokumentation mußte entnommen werden, daß trotz des zu Behandlungsbeginn korrekt eingestuften hohen Dekubitusrisikos die hieraus abzuleitende konsequente Dekubitusprophylaxe bis zum 10. Behandlungstag unterlassen wurde. Dies mußte als Behandlungsfehler beurteilt werden. Nun ist eine Dekubitusprophylaxe bei vorhandenem hohen Dekubitusrisiko nur dann erfolgreich, wenn die prophylaktischen Maßnahmen auch akzeptiert werden, d. h. wenn der Patient ein gewisses Maß an Kooperation aufbringen kann. So müßte der Patient z. B. lagerungsfähig sein, d. h. er sollte die Seitenlage für zwei Stunden im Rahmen der prophylaktischen Lagerungsmaßnahmen einhalten. Eine stabile Seitenlage durch Fixierung ist nicht möglich und wäre auch nicht statthaft. Die Unmöglichkeit der korrekten Durchführung von Lagerungsmaßnahmen ist bei verwirrten, unruhigen Patienten meistens die Ursache für das Auftreten von Decubitalulcera, auch unter klinischen Bedingungen. Die Verwendung von sogenannten Antidekubitusmatratzen ist für sich allein keine wirksame Dekubitusprophylaxe, sondern nur in Verbindung mit den weiteren Maßnahmen, insbesondere Lagerungswechsel, Hautpflege, Entlastung von druckexponierten Körperregionen.
Aus der ausführlichen ärztlichen und pflegerischen Verlaufsdarstellung geht unzweifelhaft hervor, daß die Patientin über weite Zeiträume der stationären Behandlung wegen ihres psychischen Zustandes nicht in der Lage war, die notwendige Kooperation aufzubringen. Die entscheidende prophylaktische Maßnahme, die zweistündige Umlagerung, wäre wirkungslos geblieben, da die Patientin diese Lagerungsstellung nicht einhalten konnte.
Ein Haftungsanspruch setzt voraus, daß der nachgewiesene Fehler, hier unterlassene Dekubitusprophylaxe, nachweislich ursächlich für den eingetretenen Schaden gewesen ist. Dieser Nachweis ließ sich im hier zu beurteilenden Fall nicht führen. Aufgrund der psychischen Situation der Patientin muß in Betracht gezogen werden, daß auch bei rechtzeitigem Beginn die Maßnahmen der Dekubitusprophylaxe nicht wirksam werden konnten. Zumindest läßt sich im Hinblick auf die genannten Umstände nicht beweisen, daß bei rechtzeitiger und korrekter Durchführung der Dekubitusprophylaxe die Decubitalulcera verhindert worden wären.
Vor diesem Hintergrund sah sich die Schlichtungsstelle nicht in der Lage, den Haftungsanspruch zu bestätigen und eine außergerichtliche Regulierung zu empfehlen.