Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Unterlassene Konsiliaruntersuchung – Wenn die Anamnese in die Irre leitet

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 1/2015

Kasuistik

Infolge von kolikartigen Schmerzen mit Ausstrahlung in den linken Unterbauch stellte sich die Patientin in der Nacht im Krankenhaus vor und wurde unter dem Verdacht auf eine Nierenkolik in der Urologischen Abteilung stationär aufgenommen. Sonographische Hinweise auf eine Harnstauung der Nieren ergaben sich nicht. Die Laborparameter zeigten keine Entzündungshinweise. Es erfolgte eine Nativ-Computertomographie des Abdomens und Beckens. Im Vergleich zu Voraufnahmen ein halbes Jahr zuvor ließ sich ein 2 mm großes mittleres Kelchkonkrement aus der linken Niere nicht mehr nachweisen, welches sich möglicherweise im Harnleiterostium verfangen hatte. Trotz der Schmerztherapie war keine Schmerzfreiheit zu erreichen, so dass die Patientin zwei Tage später neurologisch untersucht wurde. Am gleichen Tag erfolgte eine Kernspintomographie der Lendenwirbel, bei der keine Kompression austretender Nervenwurzeln festgestellt wurde. Zeitgleich entwickelte sich ein Harnverhalt, der mittels Katheterismus versorgt werden musste. Am darauf folgenden Tag verließ die Patientin auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat das Krankenhaus. Sie stellte sich am Folgetag bei ihrem Gynäkologen ambulant vor. Unter der Verdachtsdiagnose eines Adnextumors links erfolgte am nächsten Tag in einem anderen Krankenhaus wegen eines stielgedrehten Ovars ein operativer Eingriff. Drei Tage später wurde sie aus der stationären Behandlung entlassen.

Die Patientin trägt vor, dass man sie trotz allerstärkster Schmerzen in der Urologischen Abteilung habe über Tage liegen lassen und dass sich keiner für sie verantwortlich gefühlt habe. Die nachfolgende stationäre Behandlung im Zweitkrankenhaus sei Folge einer Fehldiagnose im zuerst aufgesuchten Krankenhaus gewesen.

Gutachten

Der beauftragte Gutachter ist zu der Auffassung gelangt, dass die vorgenommenen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen im Rahmen der stationären Behandlung inhaltlich und in zeitlicher Abfolge angemessen gewesen seien. Auf die Schmerzsymptomatik sei adäquat reagiert worden. Weitergehende diagnostische Maßnahmen seien veranlasst worden. In zeitlicher Abfolge wären als nächste Untersuchung eine gastroenterologische und dann ggf. eine gynäkologische Vorstellung sinnvoll gewesen. Es wäre mit einem reaktionspflichtigen Ergebnis zu rechnen gewesen, wenn man die Untersuchungen zugelassen hätte. Die später diagnostizierte Stieldrehung des Ovars spreche jedoch nicht für eine ärztliche Fehlbehandlung im Rahmen des ersten stationären Aufenthaltes.

Die Patientin weist auf Schmerzen und Ängste hin. Sie sei nach fünf Tagen von der Urologischen in die Medizinische Abteilung verlegt worden und hätte, wäre sie dort geblieben, noch zwei weitere Tage infolge der Darmvorbereitung auf eine Magen- und Darmspiegelung warten müssen. In dieser Zeit sei bei ihr aber bereits in dem anderen Krankenhaus die Notoperation durchgeführt worden, die ihr Leben gerettet hätte.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

In Würdigung der medizinischen Dokumentation, der Stellungnahmen der Beteiligten und der gutachterlichen Erwägungen hat sich die Schlichtungsstelle hinsichtlich der Fehlerfrage im Ergebnis nicht dem Gutachten angeschlossen, weil der Gutachter für ihn fachfremde Teilaspekte beurteilt hat. Die diagnostischen Schritte in der Urologie des zuerst behandelnden Krankenhauses wurden sachgerecht vorgenommen. Nach Ausschluss eines Nierensteins und einer Bandscheibenerkrankung bestanden weiterhin starke Schmerzen, deren Ursache sich urologischerseits nicht klären ließ. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, wäre zur differenzialdiagnostischen Abklärung der fortbestehenden Beschwerden eine gynäkologische Untersuchung notwendig gewesen. Da eine derartige Abklärung zu diesem Zeitpunkt nicht veranlasst worden war, liegt ein Befunderhebungsmangel vor. Es ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass im Rahmen einer gynäkologischen Untersuchung der Verdacht auf einen Adnextumor gestellt worden wäre. Im Zusammenhang mit den dann zu veranlassenden weiteren diagnostischen Maßnahmen (Sonographie, diagnostische Laparoskopie) wäre der Adnextumor festgestellt und operativ entfernt worden. In diesem Zusammenhang ist nach Lage der Akten davon auszugehen, dass die bei der Aufnahme in das ernstbehandelnde Krankenhaus bestehenden kolikartigen Beschwerden im Unterbauch ursächlich auf die Stieldrehung des Ovars zurückzuführen waren. Durch eine Stieldrehung wird allgemein die Blutversorgung des Ovars unterbrochen, erfahrungsgemäß ist bereits nach circa sechs Stunden mit irreversiblen Schädigungen zu rechnen. Da angesichts des Verlaufs zum Zeitpunkt der fehlerhaft unterbliebenen konsiliarischen Hinzuziehung eines Gynäkologen die Stieldrehung des Ovars bereits seit vier Tagen bestand, ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Organ nicht mehr hätte erhalten werden und hätte entfernt werden müssen. Fehlerbedingt ist es somit zu einer Behandlungsverzögerung mit entsprechend vermehrter Schmerzsymptomatik über drei Tage gekommen.

Fazit

Eine anscheinend fachtypische Anamnese muss nach Abklärung fachspezifischer Ursachen bei Fortbestehen der Symptome zu einer konsiliarischen Untersuchung in verwandten Fachgebieten führen. Nachdem im vorliegenden Fall bei einer Nierensteinanamese keine gynäkologische Konsiliaruntersuchung erfolgte, kam es zu tagelang fortbestehenden Schmerzen, die erst durch die gynäkologische Operation, die Entfernung einer stielgedrehten Ovarialzyste, behoben wurden.

Grundsatz der Differentialdiagnose: „Wer Läuse hat, kann auch Flöhe haben … .“

Autoren:

JG

Prof. Dr. med. J. Gille

Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Kerstin Kols, Ass. jur.