Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Unterlassene Kontrolle einer Fraktur des Condylus radialis humeri mit Ausgang in eine Pseudarthrose

Failure to Control a Fracture of the Radial Condyle of the Humerus with Resulting Pseudoarthrosis

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 11/2004

Einleitung
Knöcherne Verletzungen im Ellenbogenbereich bei Kindern haben hinsichtlich der Diagnosestellung und der Behandlungsverfahren ihre eigene Problematik. Die Behandlung dieser Verletzungen setzt entsprechende Erfahrungen voraus. Wer persönlich keinen regelmäßigen Umgang mit diesen Frakturen hat, sollte von Anfang an den Kollegen oder die Klinik mit dem entsprechenden Erfahrungspotenzial in die Diagnostik und Behandlung einschalten. Alle Frakturformen sind primär einer adäquaten, erfolgreichen Behandlung zugänglich mit Wiederherstellung der normalen Ellenbogenfunktion, nicht selten allerdings mit Beibehaltung leichter Deformierungen oder Achsabweichungen (Cubitus varus/valgus).

Die Fraktur des Condylus radialis humeri steht nach den suprakondylären Frakturen an zweiter Stelle in der Häufigkeit der Frakturen im Ellenbogenbereich bei Kindern. Diese Verletzungsform ist also, bezogen auf die Frakturen im Kindesalter, nicht selten. „Bei dieser Fraktur spielen zwei Probleme eine wichtige Rolle: Die Gefahr der sekundären Dislokation mit Pseudarthrosenbildung und schwersten Deformierungen des Gelenkes sowie die typische Wachstumsstörung des distalen Humerus“ (L. von LAER: Frakturen und Luxationen im Wachstumsalter). Die unbehandelte oder falsch behandelte Fraktur führt entweder zur Pseudarthrose des Condylus radialis oder zur Konsolidierung in Fehlstellung. In beiden Fällen kommt es zu einer schweren Entwicklungsstörung des Ellenbogengelenkes mit Folgen für die Funktion und Belastbarkeit im späteren Berufsleben. Die primär dislozierte Condylus radialis Fraktur stellt in jedem Falle die Indikation zur offenen Reposition und Stabilisierung mit Kirschnerdraht und/oder –Schraube dar.

Kasuistik

Ein 6-jähriger Junge zog sich beim Spielen eine zunächst nicht dislozierte Fraktur des Condylus radialis rechts zu. Die Primärversorgung erfolgte in der Unfallambulanz eines Städtischen Klinikums. Hier wurde die Diagnose korrekt gestellt, der betroffene Arm wurde in einer Oberarmgipsschiene ruhiggestellt. Es erfolgte Überweisung an einen niedergelassenen Orthopäden am Heimatort. Auf dem Überweisungsschein war die Diagnose korrekt eingetragen, jedoch keine Hinweise für die weitere Behandlung. Die Röntgenaufnahmen vom Unfalltag waren später nicht mehr auffindbar.

Der weiterbehandelnde Orthopäde entfernte 31 Tage nach dem Unfall den Gipsverband und verordnete Krankengymnastik. Eine Röntgenkontrolle der Fraktur erfolgte nicht. Wegen der Deformierung und Funktionseinschränkung des rechten Ellenbogens wandten sich die Eltern ein Viertel Jahr später an eine Unfallklinik. Hier wurde zunächst eine „Stellungskorrektur“ in Aussicht genommen. Der Junge blieb langfristig in Kontrolle dieser Klinik. Wegen der im Laufe der Zeit eintretenden Besserung der Ellenbogenbeweglichkeit (bei zunehmender Deformierung!) wurde später von einer operativen Korrektur Abstand genommen. Die frakturbedingte Deformierung des distalen Humerusendes wurde als „Fischmauldeformität“ bezeichnet. Die mit zunehmendem Alter einsetzende Verknöcherung der zum Unfallzeitpunkt noch knorpeligen Trochlea ließ auf den späteren Röntgenaufnahmen erkennen, daß primär auch ein großer Teil der Trochlea im Zusammenhang mit dem Capitulum humeri abgesprengt und disloziert worden war.

Die Eltern vermuteten, daß dem unbefriedigenden Ausheilungsergebnis der Fraktur eine falsche Behandlung zugrunde lag und wandten sich an die Norddeutsche Schlichtungsstelle.

Der in Anspruch genommene Orthopäde kommentierte seine Behandlung: Er sei von einer primär stabilen Fraktur ausgegangen und habe daher von Röntgenkontrollen abgesehen.

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter verweist auf die bekannte Problematik der Condylus radialis Fraktur. Die Sekundärdislokation der primär nicht dislozierten Fraktur sei eine bekannte, frakturtypische Erscheinung. Daher seien in jedem Falle anfänglich und bis zur dritten Behandlungswoche engmaschige Röntgenkontrollen zur rechtzeitigen Erkennung einer Sekundärdislokation erforderlich. Bei Auftreten der Sekundärdislokation seien unverzüglich die offene Reposition und die Frakturstabilisierung durchzuführen.

Dem behandelnden Arzt sei vorzuwerfen, daß er die zwingend notwendige Röntgenkontrolle unterlassen, mithin die Sekundärdislokation nicht erkannt und die notwendige operative Behandlung nicht veranlaßt habe. Hierdurch sei es zur Ausbildung einer Pseudarthrose des Condylus radialis gekommen mit einer schweren Entwicklungsstörung des Ellenbogengelenkes. Bei korrekter Kontrolle und Behandlung der Fraktur wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine vollständige Wiederherstellung der Ellenbogengelenkfunktion eingetreten.

Die Schlichtungsstelle schloß sich in der Beurteilung der Fehlerfrage dem Votum des Gutachters an. Bezüglich der Folge des Behandlungsfehlers traf die Schlichtungsstelle Ergänzungen. Als Folge des Behandlungsfehlers sind eingetreten:

  • Schwere äußere und innere Deformierung des rechten Ellenbogengelenkes und Achsenknick infolge der Pseudarthrose des Condylus radialis humeri (Cubitus valgus);
  • Zur Zeit noch keine wesentliche Einschränkung der Beweglichkeit des Ellenbogengelenkes infolge der Kompensationsfähigkeit von defektiven Gelenkveränderungen im Kindesalter;
  • Deutliche Einschränkung der dynamischen Belastbarkeit des rechten Ellenbogengelenkes infolge der Gelenkdistruktion, daher z. B. keine Ausübung von gelenkbelastenden sportlichen Übungen oder sonstigen Tätigkeiten.

Derzeit ist der Grad der Behinderung mit 20 % einzuschätzen.

Eine operative Behandlung der Pseudarthrose kann jetzt nicht mehr empfohlen werden, da die inzwischen eingetretenen Veränderungen der Knochenform und der Gelenkflächen hierdurch nicht mehr korrigiert werden und insbesondere kein nennenswerter Wachstumsausgleich mit funktioneller Adaptation an den Zustand der stabilisierten Pseudarthrose im Alter von 13 Jahren nicht mehr erwartet werden kann.

Die Prognose des rechten Ellenbogengelenkes muß anatomisch und funktionell als ungünstig angesehen werden. Im Rahmen der unwillkürlichen statischen und dynamischen Belastung des Ellenbogengelenkes wird es später zu degenerativen Veränderungen an den Gelenkflächen kommen (posttraumatische Arthrose), die in vorerst nicht absehbarem Maße zu Beschwerden und zu funktionellen Beeinträchtigungen führen werden. Diese Sekundärfolgen wären gleichfalls uneingeschränkt auf den Behandlungsfehler zu beziehen. Für die spätere Berufswahl haben die Folgen des Behandlungsfehlers erhebliche Auswirkungen, da Berufe, die mit Belastung des rechten Ellenbogengelenkes verbunden sind, ausscheiden. Es wurde daher empfohlen, vor der Entscheidung zur Berufswahl eine unfallchirurgische Begutachtung durchführen zu lassen.

Die Schlichtungsstelle hielt abschließend Schadenersatzansprüche in dem oben dargestellten Rahmen für begründet mit dem Vorbehalt künftig zu erwartender zunehmender Schäden und Funktionseinbußen am rechten Ellenbogengelenk. Eine außergerichtliche Regulierung wurde empfohlen.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover