Failure to React to Laboratory Findings Indicating Progressive Lung Disease
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 08/2008
Kasuistik
Ein 53-jähriger Mann befand sich bereits seit vielen Jahren in hausärztlicher Behandlung seines Internisten, als dieser zunehmende Atembeschwerden als Ausdruck einer spastisch-allergischen Bronchitis und eines Emphysems diagnostizierte. Wesentliche Krankheitsursache sind nach Ansicht des Arztes die Rauchgewohnheiten des Patienten.
Obwohl der Patient bereits acht Jahre zuvor das Rauchen eingestellt hatte, erwies sich die Erkrankung als progredient, erkennbar an den hausärztlich veranlassten Lungenfunktionsprüfungen, die anfänglich einen Expirationswert von nur 45 Prozent des Sollwertes und bei der Kontrolle zwei Jahre später 42 Prozent auswiesen. In der Elektrophorese war zu Behandlungsbeginn außerdem eine deutliche Verminderung des Alpha-1-Globulins aufgefallen, worauf die Laborgemeinschaft durch Markierung des Wertes hingewiesen hatte. Die Kontrolle zwei Jahre später zeigte eine weitere Abnahme dieses Wertes. Beim Kontrolltermin nach zwei Jahren wurde ergänzend eine Lungenszintigraphie veranlasst, die eine emphysemtypische inhomogene Nuklidbelegung beider Lungen zeigte.
Als unter der Behandlung mit Sekretolytika, Antibiotika, Bronchodilatativa und mit inhalativen sowie systemischen Kortikosteroiden die Atembeschwerden zunahmen, suchte der Patient zehn Jahre nach der ersten Lungendiagnostik durch seinen Hausarzt von sich aus einen Pulmologen auf, der einen Alpha-1-Antitrypsin-Mangel (Phänotyp PiZZ) als Ursache der pulmonalen Erkrankung diagnostiziert und mit industriell gefertigtem menschlichen Alpha-1-Antitrypsin substituiert hat. Dieses Präparat war bereits seit 1989 verfügbar.
Der Patient wirft dem Hausarzt vor, trotz der Symptomatik und der entsprechenden Befunde die Diagnose eines Antitrypsinmangels über zehn Jahre nicht gestellt und die seit 1989 verfügbare Substitutionsbehandlung nicht durchgeführt zu haben.
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter stellt dazu fest, dass die vom Hausarzt über zehn Jahre zu Grunde gelegte Diagnose nicht hinreichend abgesichert gewesen sei. Sämtliche Befunde, die auf das Krankheitsbild eines Alpha-1-Antitrypsinmangels hindeuteten, wären sowohl bei der ersten Lungenuntersuchung als auch zwei Jahre später vorhanden gewesen und vom Hausarzt zwar dokumentiert, doch nicht korrekt gedeutet worden. Der hausärztliche Einwand, dass ihm als Internist dieses Krankheitsbild nicht geläufig gewesen sei, entlaste ihn nicht vom Vorwurf eines Behandlungsfehlers. Bei fehlender eigener Deutungsmöglichkeit stellten die trotz Therapie eingetretene Progredienz der Symptome und pathologischen Befunde eine absolute Indikation zur Überweisung an einen pulmologisch tätigen Fachkollegen dar. Außerdem werde der Alpha-1-Antitrypsinmangel seit 1971 in allgemein zugänglichen Lehrbüchern der Inneren Medizin beschrieben.
Zusammengefasst wird im Internet unter Wikipedia und Wikiweise zum Alpha-1-Antitrypsinmangel (auch unter den Synonymen Laurell-Eriksson-Syndrom, Proteaseinhibitormangel, AAT-Defizit ) ausgeführt, dass es sich bei dieser autosomal rezessiv vererbten Stoffwechselerkrankung um eine der häufigsten Erbkrankheiten der europäischen Bevölkerung handele mit einer geschätzten Inzidenz von 1:600 bis 1:2500. Das Alpha-1-Antitrypsin hemme Proteinasen, unter anderem die Neutrophilenelastase, die von Leukozyten produziert und sezerniert werde, um beispielsweise Bakterien abzutöten oder abgestorbene Gewebereste aufzulösen. Eine ungebremste Neutrophilenelastase-Aktivität durch Fehlen des Proteaseninhibitors Alpha-1-Antitrypsin könne zur Zerstörung von gesundem Lungengewebe mit der Folge eines Emphysems führen. Ferner könne es durch gestörte Sekretion und dadurch bedingte intrazelluläre Anreicherung des veränderten AAT-Proteins in den Leberzellen zur Zellschädigung mit der Folge einer Leberzirrhose kommen.
Eine kausale Therapie gebe es zur Zeit nicht. In erster Linie würden die Folgeerkrankungen behandelt, vor allem die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung. Nikotinabstinenz sei unbedingt nötig, da die im Rauch enthaltenen Oxidantien Alpha-1-Antitrypsin inaktivierten. Infekte müssten umgehend behandelt werden, um die Konzentration an Akut-Phasen-Proteinen gering zu halten. Dabei seien Impfungen (Grippe, Pneumokokken) wichtig. Bei Lungenemphysem sei der parenterale Ersatz von Alpha-1-Antitrypsin (Prolastin® 60 mg/kg) indiziert. Es sollte ein Spiegel über 0,8 g/l angestrebt werden. In fortgeschrittenen Stadien könne eine Lungen- oder Lebertransplantation nötig sein. Die Lebertransplantation sei kurativ, weil Alpha-1-Antitrypsin kaum in extrahepatischem Gewebe synthetisiert werde.
Auf den vorliegenden Fall bezogen stellte der Gutachter fest, ein entscheidender therapeutischer Schritt sei zwar der bereits seit 1981 eingestellte Nikotinabusus. Doch hätte durch frühere Substitution des Alpha-1-Antitrypsins (Prolastin) die Progression des Krankheitsbildes zusätzlich abgeschwächt werden können.
Die Schlichtungsstelle hat sich der gutachterlichen Bewertung angeschlossen. Seit zehn Jahren ließen die Symptome und Befunde differentialdiagnostisch an einen Alpha-1-Antitrypsinmangel denken, der aber durch den hausärztlichen Diagnosefehler bzw. das Unterlassen einer pulmologischen Konsultation erst durch die Eigeninitiative des Patienten mit einer erheblichen Verspätung diagnostiziert und substituiert wurde.
Es wurde eine außergerichtliche Regulierung der begründeten Schadensersatzansprüche empfohlen.