Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Unterlassene rektale Untersuchung bei rektaler Blutung

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 12/l2004

Einleitung
Die Inzidenz kolorektaler Karzinome ist stetig im Ansteigen. Diese Tumorerkrankung stellt heute die zweithäufigste Todesursache der organbezogenen Malignome dar. Als Früherkennungsmaßnahme sind seit über 30 Jahren die prophylaktische rektale Untersuchung und die Untersuchung auf occultes Blut im Stuhl etabliert. Wenngleich die altersbezogene Erkrankungsrate erst oberhalb des 50. Lebensjahres stärker ansteigt, so sind kolorektale Karzinome unterhalb dieses Alters keineswegs selten und bei richtungsweisender Symptomatik in jedem Falle in die diagnostischen Überlegungen einzubeziehen. Wichtigstes Leitsymptom ist der rektale Blutabgang. Dieser Befund bzw. diese anamnestische Angabe muß in jedem Falle die rektale Untersuchung sowie weiterführend die Rektoskopie bzw. die Koloskopie zur Folge haben. Hämorrhoiden dürfen niemals von vornherein als gesicherte Ursache einer rektalen Blutung angesehen werden mit dem Verzicht auf die genannten Untersuchungsmaßnahmen.

Kasuistik

Eine 47-jährige Frau begab sich wegen Blutabganges aus dem Anus in Behandlung einer Ärztin für Allgemeinmedizin. Die Ärztin stellte Hämorrhoiden fest und verordnete Salben und Zäpfchen. Eine Befunddokumentation erfolgte nicht, die Behandlungsdokumentation weist lediglich Abrechnungsziffern aus. Eine rektale Untersuchung erfolgte nicht. Aus den Abrechnungsunterlagen ist auf die Eröffnung eines Hämorrhoidalknotens zu schließen. 7 Wochen später stellte sich die Patientin erneut bei der Ärztin wegen der Hämorrhoidalblutungen vor. Wiederum erfolgte keine Befunddokumentation, es wurden erneut Hämorrhoidalzäpfchen und –salbe verschrieben. Die weitere Behandlung mit 8 Konsultationen erfolgte unter der Diagnose Proktitis und Hämorrhoidalknoten. In dieser Zeit entwickelte sich eine von der Patientin zunächst nicht bemerkte Anämie mit einem Hb-Abfall auf schließlich 4,9 g/dl und entsprechender klinischer Symptomatik. Wegen der schlechten Laborwerte erfolgte fast 4 Monate nach Behandlungsbeginn die Überweisung an einen Urologen. Dieser stellte durch rektale Untersuchung sofort einen 1 cm oberhalb des Analringes beginnenden stenosierenden Rektumtumor fest und veranlaßte die unverzügliche stationäre Aufnahme in einer Chirurgischen Klinik. Hier wurde ein tiefes Rektumkarzinom festgestellt mit einer Längsausdehnung von 7 bis 8 cm, der Tumor war nur mit einem kleinkalibrigen Koloskop zu passieren. Die Tumorlokalisation erforderte die abdomino- perineale Rektumextirpation mit Anlage einer definitiven Sigmakolostomie.

Der behandelnden Ärztin wird vorgeworfen, auf die Beschwerden nicht angemessen diagnostisch reagiert zu haben. Die Ärztin führte in ihrer Stellungnahme aus, daß im Rahmen der Behandlung ein thrombosierter Hämorrhoidalknoten eröffnet worden sei. Über Schmerzen sowie über Blut- und Schleimabgang habe die Patientin nicht geklagt. Zu einer Krebsvorsorgeuntersuchung habe sich die Patientin nicht entschließen können. Wegen der durchgehend unterlassenen Dokumentation von Anamnese und Untersuchungsbefunden waren diese Angaben nicht überprüfbar.

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte allgemeinmedizinische Gutachter verweist zunächst auf die unzureichende Dokumentation, die einen Rückschluß auf die tatsächlich durchgeführten diagnostischen Maßnahmen nicht zuläßt. Von einer Unterlassung der digitalen rektalen Untersuchung während des gesamten Behandlungszeitraumes sei auszugehen. Der 4 Monate nach Behandlungsbeginn festgestellte Befund eines 1 cm oberhalb des Analringes beginnenden, stenosierenden Rektumkarzinoms hätte bereits bei der Erstuntersuchung getastet werden müssen. Aus der Wachstumsgeschwindigkeit derartiger Tumoren könne geschlossen werden, daß der Befund 4 Monate früher schon in ausgeprägter Form vorgelegen hat. Da dieser Befund seinerzeit nicht festgestellt wurde, müsse auf die Unterlassung rektaler Untersuchungen, auch im weiteren Behandlungsverlauf geschlossen werden.

Der Gutachter sieht die Unterlassung der rektalen Untersuchung als Sorgfaltspflichtverletzung an. Der Krankheitsverlauf sei typisch gewesen. Die Symptome seien nicht durch andere Begleitkrankheiten verdeckt worden. Die Diagnose und mithin die Behandlung seien durch die fehlerhafte Unterlassung der rektalen Untersuchung um ca. 4 Monate verzögert worden.

Die Schlichtungsstelle schloß sich der Auffassung des Gutachters an. Als Folge der fehlerbedingten Verzögerung der Diagnose des Rektumkarzinoms waren anzusehen:
Beschwerden durch den fälschlich als Hämorrhoidalleiden behandelten Rektumprozeß.

Zusätzliche psychische Belastung der Patientin durch das Bewußtsein eines um 4 Monate verzögert diagnostizierten Tumorleidens.

Auf die Prognose des Tumorleidens hatte die Verzögerung der Diagnose keinen nachweisbaren negativen Einfluß. Aufgrund der Tumorbiologie (Wachstumsgeschwindigkeit, Metastasierungszeitpunkt) läßt sich medizinisch-wissenschaftlich nicht beweisen, daß sich der spätere Verlauf der Tumorkrankheit bei Vorvorlegung der Operation um 4 Monate in messbarer Weise günstiger gestaltet hätte. Auch bei frühzeitiger Operation wäre die Rektumextirpation mit definitiver Kolostomie unvermeidbar gewesen.

Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche in dem dargestellten Rahmen für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

GF

Prof. Dr. med. Gisela Fischer

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover