Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Unzureichende Befunderhebung nach Sturz im Krankenhaus mit der Folge eines hohen Querschnittsyndroms

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 4/2011

Einleitung
Probleme im klinischen Alltag können durch die heute oft erforderliche Dienstgestaltung mit Schicht- und zeitversetzter Dienstplanung besonders dann auftreten, wenn stationäre Patienten bei akuten Ereignissen, vor allem an Wochenenden und im Nachtdienst, unzureichend untersucht werden oder eine unzureichende Dokumentation erfolgt.

Kasuistik

Ein 50-jähriger voll mobiler Patient wurde zur Diagnostik und medikamentösen Ersteinstellung eines spät manifestierten Anfallsleidens am 18. Mai 2006 in einer Klinik für Neurologie stationär aufgenommen. Als Nebenbefund bestand ein fortgeschrittener Morbus Bechterew mit erheblicher Kyphosierung der Brustwirbelsäule. Am Abend des 27. Mai 2006 (Sonnabend) stürzte der Patient auf dem Weg vom Tisch zum Bett in seinem Krankenzimmer. Was den Sturz verursachte, blieb unklar. Der Patient hatte den Eindruck, dass die Beine versagt hätten, die Ärzte zogen einen Krampfanfall in Betracht.

Nach dem Sturz war der Patient nicht in der Lage, aus eigener Kraft vom Boden aufzustehen, da er es nur bis auf die Knie schaffte. Der Versuch mehrerer Pflegepersonen, ihn ins Bett zu heben, musste wegen starker Nackenscherzen abgebrochen werden, gelang aber schließlich mit Hilfe eines Lifters. Um 19.20 Uhr ist in der Fieberkurve eine ärztliche Untersuchung dokumentiert: „Pat. ist in seinem Zimmer gestürzt. Hergang nicht bekannt, keine äußeren Verletzungen. Schmerzen an der Wirbelsäule und den Knien angegeben, Arme und Beine wurden gut bewegt, keine Gefühlsstörungen …Pat. soll zunächst im Bett bleiben“. Links daneben findet sich in anderer Schrift und ohne Zeitangabe der Vermerk: „CT HWS nicht durchführbar, nicht lagerungsfähig. Röntgen HWS? Magnet-Resonanz-Tomogramm?“ und auf dem Anordnungsbogen ist vermerkt: „Montag CCT HWS durchführen“.

Laut Pflegebericht der Nachtschicht (22 Uhr) klagte der Patient über große Schmerzen und dass er kein Gefühl in Bauch und Beinen habe. Die telefonisch informierte Ärztin habe die Anweisung erteilt, ein Schmerzmittel zu geben. Am Morgen konnte der Patient laut Pflegebericht das rechte Bein nicht bewegen und hatte beim Bewegen des Kopfes Schmerzen im rechten Innenarm. Im Bericht des diensthabenden Arztes (Sonntagsdienst, 28. Mai 2006) ist dokumentiert: „Im Vergleich zu gestern Abend bessere Reklination des Kopfes, kann beide Beine anziehen, Arme ebenso, Faustschluss beiderseits unvollständig. Ref. (Reflex?) fehlt aber (im) Vergleich zu Vorbefunden.“ Laut Pflegebericht der Frühschicht musste der Patient gewaschen, gekleidet, gewindelt und gefüttert werden. Am Abend konnte er die Speisen aber offenbar selber zum Mund führen.

Die eingehende neurologische Untersuchung am 29. Mai 2006 (Montag) ergab dann ein sensomotorisches Querschnittsyndrom C7/Th1 auf dem Boden einer Wirbelfraktur in Höhe von HWK 6/7 und keilförmiger Deformierung von HWK 7 mit Einbruch der Deckplatte sowie Einbruch von Teilen des Wirbelbogens von HWK 6 in den Spinalkanal mit ausgeprägter Einengung des Spinalkanals auf acht bis neun Millimeter und Stufenbildung HWK 6 gegenüber HWK 7 von fünf bis acht Millimeter. Die operative ventrale Dekompression mit Stabilisierung der Halswirbelsäule erfolgte am 30. Mai 2006. Postoperativ kam es nur zu einer mäßigen Besserung der inkompletten Tetraplegie unterhalb des Segmentes zervikal 5, weiterhin besteht auch eine inkomplette Blasen- und Mastdarmlähmung.

Gutachten

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte neurologische Gutachter kam nach ausführlicher Darstellung des Krankheitsverlaufes zu folgendem Ergebnis:
Dem stationär in einer neurologischen Klinik betreuten Patienten sei nach seinem Sturz nicht die Sorgfalt des ärztlichen Handelns zuteil geworden, wie sie angemessen gewesen wäre. Der am Abend des 27. Mai 2006 erhobene neurologische Befund erscheine oberflächlich und schwer vereinbar mit der Initialsymptomatik und dem Verlauf. Bei sorgfältiger Untersuchung hätte sich am Abend des Sturzereignisses mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiger Befund gezeigt.

Ein derartiger Befund sei am nächsten Vormittag (28. Mai 2006) dokumentiert, auf den aber erst am folgenden Tag richtig reagiert worden sei. Da die operative Behandlung der Halswirbelsäulen-Luxationsfraktur erst mit 36 bis 48 Stunden Verspätung habe erfolgen können, sei dem Patienten aus dieser Verzögerung ein Gesundheitsschaden entstanden.

Die quantitative Bewertung des durch die Verzögerung der Operation eingetretenen neurologischen Schadens könne nur mit einer erheblichen Unschärfe erfolgen. Bei Luxationsfrakturen der Halswirbelsäule sei das Ausmaß der Rückenmarksschädigung, das sich anhand des klinischen Befundes definieren lasse, nicht selten umfangreicher, als sich auf den posttraumatisch angefertigten CT- oder MRT-Aufnahmen anhand der auf das Mark drückenden Knochen vermuten lasse, da beim Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule erhebliche Wirbelscherbewegungen aufträten. Hierdurch werde das Rückenmark wie durch eine Zange verletzt. Wahrscheinlich sei der Patient ohne wesentliche Abfangreaktion auf den Rücken gefallen, wodurch sich am ehesten die bei dem Sturz erlittene Luxationsfraktur erklären lasse: Kopfbeschleunigung nach hinten beim Aufprall der kyphotischen Brustwirbelsäule auf den Boden, Überstreckung der Halswirbelsäule und Zurückschwingen in die Überbeugung im Sinne des Peitschenschlagmechanismus mit Luxationsfraktur. Dazu würde passen, dass äußere Verletzungszeichen bei dem Patienten nicht zu finden gewesen seien. Das Ausmaß der Rückenmarksschädigung werde annäherungsweise repräsentiert durch den klinischen Befund vom Abend des 27. Mai 2006 bis zum Nachmittag des 28. Mai 2006.

Die danach einsetzende Verschlimmerung, deutlich zu machen im Aufnahmebefund vom Querschnittzentrum am Spätnachmittag beziehungsweise Abend des 29. Mai 2006, dürfte wesentlich bedingt sein durch eine posttraumatische Rückenmarksschwellung. Diese Schwellung verursache unter den durch die Luxationsfraktur beengten Verhältnissen bis zur Entlastungsoperation eine weitere (sekundäre) Schädigung infolge Rückenmarkskompression. Unter Berücksichtigung solcher Aspekte lasse sich, allerdings nur näherungsweise, schätzen, dass ein Viertel bis die Hälfte des Dauerschadens, unter dem der Patient leide, auch bei richtigem und raschen Handeln eingetreten wäre.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Behandlung durch die Ärzte der neurologischen Klinik war fehlerhaft. Die diagnostischen Maßnahmen waren angesichts der Vorerkrankung, des vermuteten Unfallherganges und angesichts der klinischen Symptomatik unvollständig.

Die in der Dokumentation enthaltenen Daten über die Untersuchung des Patienten lassen den Rückschluss auf allenfalls eine sehr oberflächliche Betrachtung des Patienten aus der Ferne zu, nicht aber auf eine durchgeführte neurologische Untersuchung.

Fehlerhaft unterblieben ist angesichts der Angabe des Patienten, nicht aufstehen zu können und der starken Nackenschmerzen eine eingehende neurologische Untersuchung mit Prüfung der Reflexe, der Kraft- und Sensibilität. Diese Untersuchungen hätten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit beginnende Ausfälle ergeben, die wiederum hätten eine sofortige weitere Diagnostik (Röntgenaufnahmen der HWS, gegebenenfalls CT beziehungsweise MRT der HWS, wie sie dann am 29. Mai 2006 erfolgten) nach sich ziehen müssen. Diese Untersuchungen hätten den Nachweis der HWS-Frakturen mit der Dislokation ergeben. In dieser Situation dann eine Verlegung zu unterlassen, würde einen schweren Behandlungsfehler darstellen, da es sich um einen neurochirurgischen Notfall handelt.

Die fehlerhafte Unterlassung der medizinisch gebotenen Befunderhebung führt dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Schaden, wenn sich bei der gebotenen Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und wenn sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (vgl. BGH NJW 2004, 1871 ff).

Im vorliegenden Fall war der Fehler geeignet, die inkomplette Tetraplegie zu verursachen. Bei dem Patienten bestanden am 27. Mai 2006 erheblich weniger Symptome als am nächsten Tag. Wenn er am 27. Mai 2006 verlegt worden wäre, wäre die dann erfolgte Operation geeignet gewesen, zu einem besseren Ergebnis zu führen.

Ausgeschlossen ist eine Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite ausnahmsweise nur dann, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. BGH VersR 2004, 909).

Dass die Verletzung völlig folgenlos ausgeheilt wäre, ist als äußerst unwahrscheinlich einzuschätzen. Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung auf der Basis einer Quotelung von 75 Prozent (fehlerbedingt) zu 25 Prozent (unfallbedingt) vorzunehmen.

Autoren:

GH

Prof. Dr. med. Günter Haferkamp

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover