Insufficient Clinical Diagnostics in Patient with Stab Wound
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2011
Kasuistik
Ein 39-jähriger Patient erhielt bei einer Auseinandersetzung einen Messerstich in die linke Flanke. Bei der Aufnahme im Krankenhaus war der Kreislauf zunächst stabil. Im Bereich über der linken Flanke fand sich eine vier Zentimeter lange und 10 Zentimeter tiefe Stichverletzung, die leicht blutete. Die sonographische Untersuchung zeigte freie Flüssigkeit am Oberrand der Milz, sonst aber keine weiteren Auffälligkeiten im Bauchraum. Nach 20 Minuten Behandlung und Überwachung trat eine Kreislaufdepression ein. Deshalb entschloss man sich wegen Verdachts auf zunehmende intraabdominale Blutung zur Intervention über eine diagnostische Laparoskopie. Dabei zeigte sich im Bauchraum links entlang der parakolischen Rinne ein retroperitoneales Hämatom. Das einsehbare Colon erschien insgesamt unverletzt. Die Milz wurde als unauffällig beschrieben. Da keine weiteren intraabdominalen Läsionen festzustellen waren, wurde der Stichkanal mit dem Laparoskop von außen beginnend inspiziert, ein Hämatom ausgeräumt und eine spritzende Blutung im Bereich der Muskelfaszie gestillt. Nach dem Eingriff erfolgte die weitere Überwachung auf der Normalstation.
Am ersten postoperativen Tag stieg der CRP-Wert von 3,0 auf 118,1 mg/l (normal weniger als 5 mg/l).
Im Sonogramm des Abdomens fand sich sowohl reichlich Luft im Darm bei lebhafter Peristaltik als auch im Bauchraum selbst.
Am zweiten postoperativen Tag war der CRP-Wert auf 279,6 mg/l eleviert .Bei der ärztlichen Untersuchung des Bauchs fand sich zwar keine Abwehrspannung, doch verlief die Untersuchung schmerzhafter als am Vortag. Die jetzt erstmals angeordnete Computertomographie (CT) beschrieb eine ausgedehnte freie Luftansammlung im Bauchraum und linksseitig in der Bauchwand selbst, sowie Flüssigkeit um den Pankreasschwanz Die Spitze der Drainage lag innerhalb der verdickten Rumpfmuskulatur und nicht intraabdominal.
Am dritten postoperativen Tag war der CRP Wert auf 458,3 mg/l angestiegen. Im Kontroll-CT zeigte sich ein linksseitiger Pleuraerguss, reichlich freie Luft im Bauchraum aber auch retroperitoneal mit ausgedehntem Weichteilemphysem, vereinbar mit einer Verletzung des absteigenden Dickdarms. Jetzt entschloss man sich zur Laparotomie. Dabei fanden sich jeweils eine Perforation im retroperitonealen Teil des absteigenden Dickdarmschenkels links sowie im oberen Dünndarmbereich. Es folgte eine Flexurenresektion links mit Anlage einer Transverso-Sigmoideostomie sowie eine Dünndarmsegmentresektion mit latero-lateraler Jejunostomie. Sowohl im Bauchraum als auch im Retroperitoneum zeigte sich eine fibrinös-eitrige Entzündung.
Zwei Tage später wurde eine Second look Operation mit Bauchspülung, zusätzlicher Anlage eines doppelläufigen Ileostomas und eine offene Wundbehandlung mit Vakuumwundversiegelung realisiert. Weitere Revisionseingriffe folgten in regelmäßigen Abständen. Am 16. postoperativen Tag musste die Colonanastomose aufgehoben, Teile von Colon transversum und descendens nachreseziert und eine neue Anastomose angelegt werden. Mehrere Wundrevisionen mit Vakuumversiegelungen waren dann erforderlich, um die Peritonitis zu beherrschen
Am 24. postoperativen Tag kam es zu einer Jejunumperforation, die übernäht werden konnte. Nach zwei Monaten Krankenhausaufenthalt, davon zwei Drittel der Zeit unter Intensivbehandlung, konnte der Patient entlassen werden. Drei Monate später erfolgte die Ileostomarückverlegung.
Der Patient erhob den Vorwurf, dass nach der Messerstichverletzung im Bereich der linken Flanke keine ausreichende Untersuchungen vor, während und nach der Laparoskopie durchgeführt worden seien. Dadurch wären fehlerhaft die Dick- und Dünndarmverletzungen zunächst übersehen worden. Somit hätten sich im rückwärtigen Bauchraum und in der Bauchhöhle schwere Entzündungen ausbreiten können. Insgesamt wären 18 Folgeoperationen dadurch erforderlich gewesen.
Seitens der behandelnden Klinik wurde entgegnet, dass zunächst dringlich eine intraabdominale Blutung habe versorgt werden müssen. Bei der Bauchspiegelung hätte sich kein Anhalt für eine Verletzung von Bauchorganen ergeben. Während der Inspektion des Stichkanals habe man eine unverletzte Dickdarmwand einsehen können. Die Laparoskopie selbst gelte als ein anerkanntes Verfahren bei intraabdominalen Stichverletzungen. Auf die dann eintretende klinische Verschlechterung sei rechtzeitig reagiert worden. Der Vorwurf eines Behandlungsfehlers werde zurückgewiesen.
Gutachten
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte viszeralchirurgische Gutachter hat folgende Kernaussagen getroffen:
Das primäre Vorgehen durch Laparoskopie sei in diesem Fall als unzureichend zu betrachten, da keine Mobilisation des linksseitigen Dickdarmes und der Dickdarmkrümmung an der Stelle des retroperitonealen Hämatoms erfolgt sei und somit eine Verletzungen in diesem Bereich nicht sicher hätte ausgeschlossen werden können. Stichverletzungen würden oft viel tiefer und weitreichender gehen, als es die Stichkanalprüfung vermuten ließe. Nach Befundlage sei es als fehlerhaft anzusehen, nicht in gleicher Narkose auf das offene Operationsverfahren zu konvertieren. Im Besonderen wäre es aufgrund des beschriebenen Blutergusses entlang der parakolischen Rinne links zwingend geboten gewesen, die Situation im Retroperitoneum sowie die Intaktheit des Dickdarms und anderer Strukturen zu klären.
Weiterhin sei als fehlerhaft vorzuwerfen, dass bei der Laparoskopie der Dünndarm in seiner gesamten Länge nicht schrittweise auf Verletzungen untersucht worden wäre.
Da sich im vorliegenden Fall die Primärdiagnostik nur auf Ultraschall und Laparoskopie allein stützte, hätte unmittelbar nach der Operation eine weiterführende bildgebende Diagnostik durch CT mit spezieller Überprüfung der rückwärtig im Bauchraum gelegenen Organe und Strukturen erfolgen müssen. Die Ultraschalluntersuchungen im postoperativen Verlauf seien aufgrund der massiven Luftüberlagerung nicht aussagefähig gewesen. Der deutlich angestiegene CRP-Wert hätte auf die Entwicklung eines entzündlichen Geschehens hingewiesen und wäre nicht entsprechend gewürdigt worden. So habe man die Darmverletzungen zwei Tage zu spät erkannt und behandelt.
In der Folge wäre eine langanhaltende intensivmedizinische Behandlung mit einem Luftröhrenschnitt zur Dauerbeatmung und zahlreichen Revisionsoperationen im Bereich des Bauchraumes und der Bauchwand erforderlich gewesen.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle schloss sich den gutachterlichen Erwägungen an.
Stichverletzungen im Bauch- und Flankenbereich sind in ihrer Dimension klinisch nur schwierig einzuschätzen. Sie erfordern deshalb eine besonders subtile Diagnostik, nicht nur an den Organen der Bauchhöhle, sondern auch im Bereich des Retroperitoneum.
Unter dieser Prämisse muss dem Operateur – wenn er sich für eine initiale Laparoskopie zur Identifizierung von Läsionen entscheidet – bewusst sein, dass einem solchen Vorgehen Grenzen gesetzt sind. Wie der konkrete Fall beweist, war die Bauchspiegelung nicht zielführend. Zwar konnte eine intraabdominale Blutung ausgeschlossen werden, doch sind weder die Darmverletzungen erkannt noch das linksseitige parakolische Hämatom als Hinweis auf eine Verletzung im Retroperitoneum entsprechend gewürdigt worden. Allein dieser Befund hätte Anlass zur unmittelbaren Konversion auf offen-chirurgisches Vorgehen sein müssen, wenn dem Operateur eine Eröffnung des Retroperitoneums technisch nicht durchführbar erschien. Eine mögliche Alternative wäre die sofortige bildgebende Diagnostik durch CT nach Beendigung der Laparoskopie gewesen. Beide Maßnahmen sind vermeidbar fehlerhaft nicht zeitgerecht realisiert worden.
In der unterlassenen Durchführung weitergehender Diagnostik zum Ausschluss einer Verletzung im Bereich des Darmes und als mögliche Ursache des erkannten Hämatoms ist ein Befunderhebungsmangel zu sehen. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wäre bei gebotener Befunderhebung die dann im Rahmen der Revisionslaparotomie am 1. Juni 2007 festgestellte Hohlorganverletzung bereits am 29. Mai 2007 erkannt worden. Darauf nicht zu reagieren, wäre ein grober Behandlungsfehler gewesen. Es kommt deshalb zu einer Beweislastumkehr zugunsten des Patienten, so dass es für den Nachweis der Kausalität ausreicht, dass die Fehler geeignet waren, den nachfolgenden langwierigen und komplizierten Verlauf zu verursachen.
Die über den Zeitraum von zwei Tagen fehlerhaft unbehandelten Darmperforationen waren geeignet, zu umfangreichen entzündlichen Prozessen in der Bauchhöhle und im Retroperitonealraum zu führen, die mit einer längeren intensivmedizinischen Behandlung verbunden waren. Die zahlreichen Revisionsoperationen sind mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die verzögerte Behandlung der Perforation zurückzuführen.
Die Schlichtungsstelle hielt Schadensersatzansprüche im dargestellten Rahmen für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.