Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 1/2016
Kasuistik
Bei einer 26-jährigen Patientin traten nach Operation eines neurophysiologisch unauffälligen Karpaltunnelsyndroms rechts im Jahre 2007 ähnliche Gefühlsstörungen an ihrer rechten Hand auf wie vor der Operation, so dass sie sich im April 2009 erneut einem Facharzt für Chirurgie vorstellte. Bei typischen klinischer Symptomatik eines Karpaltunnelsyndroms aber unauffälligen neurologischen Befunden nahm der Chirurg Ende Mai 2009 eine operative Revision mit Neurolyse des Medianusnerven im rechten Karpaltunnel vor. Unmittelbar postoperativ traten Sensibilitätsstörungen an den Fingern I bis III der rechten Hand auf. Bei einer erneuten operativen Revision durch einen Handchirurgen im September 2009 wurde eine hälftige Durchtrennung des Medianusnerven rechts als Ursache der Beschwerden festgestellt und zunächst eine Nervennaht mit tubulärer Einscheidung vorgenommen. Bei ausbleibender Besserung musste im September 2010 eine Interposition mit Nervus suralis – Transplantaten durchgeführt werden. Bei der letzten Kontrolluntersuchung im Januar 2011 wurde die Funktion der Hand weiterhin als massiv eingeschränkt beurteilt und eine stationäre Komplextherapie vorgeschlagen.
Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen
Die Patientin wirft dem Chirurgen eine fehlerhafte Durchführung der Operation im Mai 2009 vor, die zu einem Gefühlsausfall der Finger I bis III geführt habe, die sich auch nach zwei weiteren Eingriffen nicht gebessert hätten.
Der Arzt schildert seine Behandlung und geht davon aus, dass nicht vollständig gelöste narbige Verwachsungen und eine bei der Spaltung des Karpaltunnels eingetretene Verletzung des Medianusnerven ursächlich gewesen seien, die jedoch bei der Operation nicht ersichtlich gewesen sei.
Gutachten
Der Gutachter gelangte zu der Bewertung, dass angesichts der Komplexität der Indikationsstellung bei Vorliegen präoperativ normaler elektroneurographischer Leitungswerte des Medianusnerven und nicht ausgeschöpfter konservativer Behandlungsmaßnahmen eine Indikationsstellung zur Revisionsoperation nicht gesehen werden könne. Bei der Durchführung der Operation im Mai 2009 sei weder dokumentiert, ob eine mikrochirurgische Hilfe oder Lupe Verwendung gefunden habe, noch sei eine mikrochirurgische Vorgehensweise beschrieben, so dass nicht entsprechend seinerzeit geltender Standards vorgegangen worden sei. Sowohl die Neurosonografie als auch der intraoperative Befund bei der Revisionsoperation Anfang September 2009 seien einer iatrogenen Nervenverletzung bei dem Eingriff im Mai 2009 zuzuordnen. Der Fehler sei bei ausreichender Ausschöpfung aller konservativer Maßnahmen und sorgfältiger Durchführung des Eingriffs vermeidbar gewesen. Auch bei fachgerechtem Operieren sei mit einer Misserfolgsquote von 30 bis 40 % – wie sie bei Revisionseingriffen auftreten können – zu rechnen gewesen. Die Teildurchtrennung des Medianusnerven habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass die Erfolgsaussicht von 60 % nicht habe erreicht werden können. Eine exakte Zuordnung sei erst ein bis drei Jahre nach Vornahme der Nerventransplantation möglich.
Die Patientin weist darauf hin, dass sie der Operation nur zugestimmt habe, nachdem der Chirurg ihr versichert habe, dass die Schmerzen nur durch eine Operation zu bessern seien.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Auch die Schlichtungsstelle hält die Indikation zu der Rezidiv-Operation im Mai 2009 für fehlerhaft. Die Begründung dieser Beurteilung liegt im dokumentierten Verlauf, der inadäquaten konservativen Therapie und dem Fehlen eines präoperativen elektroneurografischen Befundes. Es lagen völlig normale Leitungswerte des Medianusnerven vor, die eine sorgfältige Differenzialdiagnose erforderlich gemacht hätte, was nicht geschehen ist.
Laut Operationsbericht wurde die Spaltung des Retinakulums von proximal nach distal mit Unterfahren des Retinakulums mit langem Spatel ohne direkte Sicht auf den Medianusnerven vorgenommen. Unter Berücksichtigung des Operationsberichts vom September 2010 lag die Durchtrennungsstelle des Medianusnerven im distalen Bereich des Karpaltunnels an seiner Aufteilungsstelle. Damit kann davon ausgegangen werden, dass die Nervenverletzung dort aufgetreten ist, wo keine genügende Sicht auf den Medianusnerven bestanden hat. Die „blinde“ Neurolyse des Medianusnerven ohne Gebrauch einer Lupe oder Operationsmikroskop muss ebenfalls als fehlerhaft gewertet werden.
Gesundheitsschaden
Bei sorgfältiger Indikationsstellung hätte der Eingriff nicht vorgenommen werden dürfen.
Wenn bei normalen präoperativen elektroneurografischen Leitungswerten des Medianusnerven eine Dekompressionsoperation unter dem Eindruck der bestehenden Beschwerden und dem Wunsch der Patientin folgend trotzdem vorgenommen wurde, hätte eine mikrochirurgische Neurolyse mit Gebrauch einer Lupe oder besser eines Operationsmikroskops vorgenommen werden müssen. Bei sorgfältiger Präparation unter dauernder Sicht auf den Medianusnerven wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit die hälftige Durchtrennung des Nerven vermeidbar gewesen. Die Behandlungszeit hätte nach dem Eingriff circa drei bis vier Wochen betragen.
Es wäre nach dem Rezidiveingriff erfahrungsgemäß mit weiter bestehenden Sensibilitätsstörungen zu rechnen gewesen, nicht aber mit dem weitgehenden Sensibilitätsverlust und den partiellen motorischen Ausfällen, die nach der hälftigen Medianusdurchtrennung aufgetreten sind.
Durch das fehlerhafte Vorgehen ist es zu folgenden zusätzlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen gekommen:
- Notwendigkeit von zwei zusätzlichen Eingriffen zur Rekonstruktion des Medianusnerven mit
a) Nervennaht und tubulärer Einscheidung Anfang September 2009,
b) Nerventransplantation mit Entnahme von Suralistransplantaten am Unterschenkel Ende September 2010. - Verlängerung der Behandlungszeit
- Weitgehender Sensibilitätsverlust der Finger I bis III rechts und bisher nicht beeinflussbaren Schmerzen in der rechten Hand sowie
- Greifbehinderung der rechten Hand beim Spitzgriff
Das gesamte Ausmaß der neurologischen Ausfälle kann erst zwei Jahre nach erfolgter Nerventransplantation festgestellt werden.
Fazit
Zu den Kenntnissen handchirurgischer Grundlagen gehören eine exakte Indikationsstellung und ein fachspezifisches, atraumatisches Operieren – insbesondere bei Rezidiveingriffen.