Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Versäumte Untersuchungen bei metastasierendem Dünndarm-Karzinom

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 12/2003

Einleitung
Zu den typischen hausärztlichen Aufgaben gehört es auch, Patienten mit Malignomerkrankungen in den Zwischenphasen und nach Abschluß der stationären Tumorbehandlung ambulant zu betreuen. Es handelt sich hierbei um eine komplexe Aufgabe, die vor allem bei fortgeschrittenen Krankheitsstadien psychologische Aspekte mit erhöhter Gesprächsbereitschaft mit dem Patienten, familienmedizinische Belange mit der gleichzeitigen psychosozialen Betreuung und Unterstützung von Angehörigen sowie sozialmedizinische Aufgaben bei der Organisation von Versorgung und ggf. Pflege umfaßt. Gleichzeitig müssen medizinische Verlaufskriterien hier, schon angesichts der Gefährdung, besonders sorgfältig kontinuierlich beachtet und zielführend verfolgt werden. Dabei sind insbesondere Veränderungen des Krankheitsverlaufes und neu auftretende Symptome differentialdiagnostisch von der bestehenden Grundkrankheit abzugrenzen.

Kasuistik

Bei einer 58-jährigen Patientin hatte der Hausarzt vor drei Jahren wegen unklaren Gewichtsverlusts die entscheidenden Weichen zur Aufdeckung eines stenosierenden Rectumkarzinoms gestellt und nach erfolgreicher chirurgischer und chemotherapeutischer Behandlung ein Jahr später eine Krankenhauskontrolle veranlaßt, die jedoch keinen krankhaften Befund ergab. Aufgrund einer Makrohämaturie erfolgte nach 1 ½ Jahren erneut eine Krankenhauseinweisung, die eine Bauchdeckenmetastase ergab, welche exzidiert und anschließend chemotherapeutisch behandelt wurde. Etwa ein Jahr nach Abschluß dieser Behandlung traten nach Darstellung der Patientin Bauchschmerzen, Blähungen sowie Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, später massives Erbrechen, auf. Trotz mehrfacher Sprechstundenkontakte und gelegentlicher Hausbesuche seien trotz der stetig zunehmenden Beschwerden keine weiteren Untersuchungen erfolgt. Insgesamt habe die Patientin 15 kg Gewicht verloren und sei zuletzt kaum noch in der Lage gewesen, aus dem Bett aufzustehen. Eine von der Patientin selbst veranlaßte gynäkologische Untersuchung führte zur sofortigen Krankenhauseinweisung. Es wurde ein kompletter Darmverschluß durch ein Dünndarmkarzinom im Sinne einer Zweitneoplasie diagnostiziert. Im Rahmen der dringenden Ileusoperation erfolgte die Resektion des tumortragenden Darmsegments und anschließend Chemotherapie. Der Heilverlauf war wiederum unkompliziert.

Dem Hausarzt wird vorgeworfen, keine sachgerechte Abklärung der Schmerzen vorgenommen und eine zielführende Behandlung fehlerhaft verzögert zu haben.

In seiner Stellungnahme zu den Vorwürfen gibt der Hausarzt an, die Patientin habe sehr unter der stationären Behandlung der Krebserkrankung, insbesondere der Chemotherapie, gelitten und dem Hausarzt gegenüber unmißverständlich erklärt, sie könne weitere Krankenhausaufenthalte seelisch und körperlich nicht mehr verkraften. Auch hätte die Patientin eine Behandlung mit einem Mistel-Präparat gewünscht und auch erhalten.

Nach Auffassung des Gutachters liegt ein vermeidbarer ärztlicher Fehler vor. Er wird darin gesehen, daß spätestens bei Auftreten der Beschwerden Erbrechen, Bauchschmerzen und dem erheblichen Gewichtsverlust eine weiterführende Klärung im spezialärztlichen Sektor bzw. im Krankenhaus hätte erfolgen müssen. Für die Darstellung des Hausarztes, die Patientin hätte den Wunsch geäußert, eine Krankenhauseinweisung solle nicht mehr erfolgen, vermißt der Gutachter eine entsprechende Dokumentation in der Karteikarte.

Der Gesundheitsschaden, der der Patientin aus diesem Fehler erwachsen ist, wird vom Gutachter darin gesehen, daß für einen Zeitraum von etwa drei Wochen anhaltende erhebliche Beschwerden, wie Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen im Bauchraum vorlagen. Der Gutachter geht zwar davon aus, daß die frühere Einweisung auch zu einer früheren Erkennung des Karzinoms geführt hätte, andererseits wäre der Patientin jedoch die Operation wegen des drohenden Darmverschlusses nicht erspart geblieben. Auch hätte sich an der gesamten Krankheitsprognose nach gutachterlicher Einschätzung nichts geändert.

Auch die Schlichtungsstelle geht von einem hausärztlichen Fehler aus, den sie in Übereinstimmung mit dem Gutachten in einer unzureichenden Klärung neu aufgetretener Symptome bei der bestehenden Grundkrankheit sieht. In Übereinstimmung mit dem Gutachter geht auch die Schlichtungsstelle davon aus, daß der Gesundheitsschaden sich auf eine vermeidbare Zeit von ca. vier Wochen mit hochgradigen Beschwerden sowie eine Verzögerung der Rekonvaleszenz nach dem operativen Eingriff bezieht.

Die Schlichtungsstelle weist insbesondere darauf hin, daß so bedeutsame Aussagen von Patientin, wie die Ablehnung einer Krankenhauseinweisung und die Äußerung von Wünschen zum medizinischen Vorgehen, gerade bei Malignomkranken, einer besonders sorgfältigen Dokumentation bedürfen. Ungeachtet dessen ist der (Haus)-Arzt dennoch verpflichtet, die Chancen einer Gesundheitsverbesserung und Linderung von Beschwerden zu nutzen sowie abwendbare Gefährdungen zu verhindern.

Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

GF

Prof. Dr. med. Gisela Fischer

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover