Kasuistik
Im Schlichtungsverfahren war die Behandlung durch Ärzte einer Neurochirurgischen und Inneren Klinik eines Klinikums zu prüfen.
Am 27. Februar wurde eine 48-jährige Patientin durch den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst wegen Übelkeit und Durstgefühl bei mit einer Insulinpumpe behandeltem Diabetes mellitus stationär eingewiesen. Unter dem klinischen Bild einer Sepsis und Auffassung, dass eine Spondylodiszitis ausgeschlossen wäre, erfolgte durch die Klinik für Neuro- und Wirbelsäulenchirurgie die Verlegung in die Klinik für Innere Medizin. In einem dort am 22. März aufgrund der fortbestehenden Klinik initiierten MRT wurden eine epidurale Abszedierung, betont bei BWK 5 und BWK 8 und eine absolute Spinalkanalstenose von BWK2 bis 8 mit Myelopathie Signal auf Höhe BWK 6/7 nachgewiesen. Am Folgetag erfolgte eine Empyementlastung von BWK4 bis BWK8. Die stationäre Behandlung schloss sich bis zum 4. April an. Es verblieb ein inkomplettes Querschnittssyndrom mit Rollstuhlpflicht.
Zur weiter zurückliegenden Vorgeschichte sind die Diagnose eines Typ I Diabetes 1984 und die Notwendigkeit einer intravenösen Insulintherapie wegen absoluter subkutaner Insulinresistenz von Bedeutung. Die Patientin machte zwei Pankreastransplantationen, mehrere Inselzelltransplantationen und nach einer hausärztlichen Epikrise eine Vielzahl von Dia-Port-System-Anlagen und weiteren venösen Zugängen ohne Erfolg durch. Zur Anamnese gehören ferner ein zurückliegender bariatrischer Eingriff mit nur mäßigem Gewichtseffekt und ein schweres Schmerzsyndrom mit osteoporotischer Wirbelkörperfraktur, Opiatabhängigkeit, Blasenentleerungsstörung sowie rezidivierend schwerdepressiven Episoden.
Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen
Die Patientin bemängelt eine nicht zeitgerechte Abklärung der sich in der ersten Märzwoche entwickelnden Lähmungserscheinungen. Erst viel später, nämlich am 22. März, wäre die Ursache für die neurologischen Ausfälle erkannt worden. Hätte man früher zielführende Untersuchungen veranlasst und sich nicht von dem Verdacht einer Diabeteskomplikation leiten lassen, wäre vermutlich das Schlimmste noch vermieden worden.
Stellungnahme der Abteilung für Innere Medizin des Klinikums
Die Übernahme aus der Klinik für Neuro- und Wirbelsäulenchirurgie wäre nach einem definitiven Ausschluss einer Spondylodiszitis erfolgt. Die Symptomatik und die Befunde wären einerseits mit der Möglichkeit einer septischen Pneumonie erklärbar gewesen und andererseits hätte ein chronisches Schmerzsyndrom bestanden, für das die Fortführung einer komplexen Schmerztherapie erforderlich gewesen wäre. Nach den erstmals dokumentierten Beschwerden der Patientin mit Schwäche des rechten Unterschenkels am 12. März wäre die weitere Diagnostik ohne Verzögerung eingeleitet und Durchgeführt worden.
Gutachten
Der externe Gutachter führt aus, dass die initiale Diagnostik in der Neurochirurgischen Klinik inkomplett und damit nicht fachgerecht gewesen sei. Es wäre versäumt worden, die Brustwirbelsäule mittels MRT vollständig mit abzubilden. Fehlerhaft wäre insbesondere gewesen, im neurochirurgischen Verlegungsbericht, vom „Ausschluss Spondylodiszitis“ zu sprechen. Dies hätte den weiteren diagnostischen Verlauf entscheidend verzögert und es wären Folgefehler entstanden, die sich aus dem ersten Fehler ergeben hätten. Die fortgeschrittene Spondylodiszitis hätte sich im MRT mit großer Wahrscheinlichkeit deutlich darstellen lassen. In diesem Fall wäre eine umgehende operative Intervention zu diskutieren gewesen und das Nichterkennen des deutlichen Befunds oder eine Nichtreaktion darauf wären völlig unverständlich oder nicht nachvollziehbar gewesen. Der Fehler hätte bei sorgfältigem Vorgehen in der damaligen Situation vermieden werden können. Es wäre wahrscheinlich, dass bei richtigem ärztlichen Handeln und frühzeitiger operativer Intervention die Parese zu verhindern gewesen wäre. Bei schnellerer Diagnose hätte vermutlich das Eintreten der Lähmung verhindert werden können. Allerdings wäre auch bei optimaler Behandlung bei dieser Patientin mit einem komplexen Krankheitsbild eine Parese nicht immer vollständig zu verhindern gewesen. Somit wäre die Lähmung als solche nicht allein fehlerbedingt aufgetreten. Das Ausmaß der Lähmung wäre jedoch wahrscheinlich allein fehlerbedingt verursacht.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle schloss sich dem Gutachten im Ergebnis an. Bei jahrzehntelang bekanntem schwer therapierbarem Typ 1 Diabetes mellitus erfolgte am 27. Februar eine notärztliche Krankenhauseinweisung. Im Aufnahmebefund sind Kopfschmerzen, Temperaturerhöhung bis 39,7°C, Übelkeit und Erbrechen und in der Form noch nie aufgetretene gleichbleibende stechende Rückenschmerzen vermerkt. Nachdem eine MRT-Untersuchung der Lendenwirbelsäule vom 28. Februar keine Hinweise auf eine Spondylodiszitis ergab, wurde die Patientin in der Klinik für Innere Medizin des Klinikums weiter untersucht und behandelt.
Erst im weiteren Verlauf und nach der Entwicklung von Lähmungserscheinungen waren ein MRT der Halswirbelsäule, der Brustwirbelsäule und der Lendenwirbelsäule vom 22. März diagnostisch mit Aufdeckung eines ausgedehnten entzündlichen Geschehens an der dorsalen Rumpfwand und im Spinalkanal.
Die Schlichtungsstelle folgt der detaillierten Analyse des Gutachters, wonach es fehlerhaft war, die erste MRT-Untersuchung auf den Bereich der Wirbelsäule zu beschränken, der die vorliegende Diagnose nicht ermöglichte. Der Gutachter stellt das Krankheitsbild der Spondylodiszitis korrekt dar. Die bei der Patientin seinerzeit vorliegenden Symptome und Befunde hätten nicht erlaubt, diese als eine Form diabetischer Neuropathie aufzufassen. Im vorliegenden Fall sind Mängel in der Befunderhebung festzustellen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit Veränderungen in der Beweislastverteilung zwischen den Parteien daraus resultieren.
Eine fehlerhafte Unterlassung der medizinisch gebotenen Befunderhebung führt dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Schaden, wenn sich bei der gebotenen Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und wenn sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (vgl. BGH NJW 2004, 1871 ff).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt: Nicht auf die – angesichts des weiteren Verlaufs – bei fachgerechter Diagnostik ohne weiteres erkennbare Spondylodiszitis operativ beziehungsweise konservativ zu reagieren, würde in Anbetracht der Risiken, die ein Fortschreiten der Spondylodiszitis hat, einen schweren Behandlungsfehler darstellen.
Vor dem Hintergrund der Beweislastumkehr reicht es für den Kausalitätsnachweis aus, dass die zu unterstellende fundamentale Verkennung des zu erwartenden Befunds oder die Nichtreaktion darauf generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen.
Gesundheitsschaden
Die Beweislastumkehr bezieht sich auf folgende Primär- und typischerweise damit verbundene sekundäre Gesundheitsschäden: Ausbreitung und Intensivierung der Spondylodiszitis, mit damit verbundenen irreversiblen neurologischen Störungen. Fehlerbedingt ist die Patientin jetzt dauerhaft auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen.
Fazit
Einem Untersuchungsergebnis Sepsis mit Ausschluss Spondylodiszitis muss eine geeignete und vollständige Bildgebung zugrunde liegen. Die hier inkomplette MRT-Darstellung der Wirbelsäule hat zu einer verspäteten Diagnose der Spondylodiszitis mit begleitender Abszedierung und Einengung des Spinalkanals geführt. Das Ausmaß der Lähmung muss als wahrscheinlich allein fehlerbedingt verursacht angesehen werden.