Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Verständigungsprobleme in der ärztlichen Praxis

Communication Difficulties at the Doctor’s Office

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 11/2011

Einleitung
Menschen mit Migrationshintergrund gehören heute zum Patientenstamm vieler Arztpraxen. Im Vergleich zu deutschen Patienten sind bei ihrer Versorgung Besonderheiten zu berücksichtigen. Hierzu zählt unter anderem das Krankheitsverständnis anderer Kulturkreise, das gerade bei chronischen und unheilbaren Erkrankungen mit langen Verläufen eine große Bedeutung hat. Zusätzlich bleibt die sprachliche Verständigung nach wie vor ein zentrales Problem. Aufklärungs- und Informationsmaterialien in der Landessprache der Patienten sind für bestimmte Situationen ein Hilfsmittel zur Überwindung der Sprachbarriere. Sie können jedoch das Gespräch über notwendige Maßnahmen im Einzelfall nicht ersetzen. Hier ist es ärztliche Aufgabe, sachgerechte Lösungen zu finden, um Missverständnisse und schwerwiegende Konsequenzen zu vermeiden.

Kasuistik

Die 1977 in der Türkei geborene Patientin stellte sich im November 2006 wegen Unterbauchschmerzen bei einem hausärztlich tätigen Internisten vor. Sie wurde zur weiteren Abklärung an einen Frauenarzt überwiesen, dessen Untersuchungen einen altersentsprechenden Normalbefund ergaben. Zum nächsten Praxisbesuch beim Hausarzt kam es im Mai 2007 mit der Angabe persistierender Bauchschmerzen. In den folgenden Monaten wurden unter den Diagnosen Zystitis, LWS-Syndrom und allergische Rhinokonjunktivitis symptomatische Behandlungen durchgeführt. Im Dezember 2007 wurde eine mikrozytäre Anämie (Hb 10,9 g/dl) festgestellt und die Substitutionstherapie mit Eisenpräparaten eingeleitet. Es lag eine ungewollte Gewichtsabnahme von angeblich fünf Kilo vor. Die endoskopische Untersuchung des oberen Gastrointestinaltrakts im Januar 2008 zum Nachweis beziehungsweise Ausschluss einer Blutungsquelle ergab keinen pathologischen Befund. Auch die im gleichen Monat veranlassten gynäkologischen und urologischen Untersuchungen führten nicht zur Klärung des Beschwerdebildes. Danach suchte die Patientin den Hausarzt erst wieder im Mai 2008 auf. Sie litt jetzt unter ausgeprägten abdominellen und gastroenteritischen Beschwerden. Die Koloskopie Anfang Juni 2008 zeigte ein stenosierendes Karzinom der rechten Dickdarmflexur, das noch im gleichen Monat im Stadium pT4 pN0 pM1 (Lymphknotenmetastase am Pankreasoberrand) operiert wurde (R0-Resektion). Während des stationären Aufenthaltes wurde bekannt, dass zahlreiche Familienangehörige der Patientin in der Türkei an Darmtumoren erkrankt beziehungsweise verstorben waren. Die daraufhin veranlasste molekulargenetische Diagnostik bestätigte das Vorliegen eines hereditären, nicht polypösen kolorektalen Karzinoms (HNPCC). Von Juli bis Dezember 2008 erfolgte eine adjuvante Chemotherapie und anschließend die Tumornachsorge. Bis Januar 2010 war es weder zu einem Lokalrezidiv noch zu Fernmetastasen gekommen.

Die Patientin beanstandete die Behandlung durch den Hausarzt, der trotz entsprechender Symptome ab November 2006 den später diagnostizierten Darmtumor nicht erkannt habe. Bei frühzeitiger Diagnose und Behandlung des Tumors wären die dann erforderlich gewordenen Maßnahmen mit einer wesentlich geringeren gesundheitlichen Beeinträchtigung und einer besseren Langzeitprognose verbunden gewesen.

In seiner Stellungnahme zu dem Vorwurf fehlerhaften Handelns hat der Hausarzt Behandlungsfehler in Abrede gestellt. Nachdem die endoskopische Diagnostik des oberen Gastrointestinaltrakts im Januar 2008 keinen weiterführenden Befund ergeben hätte, sei der Patientin die Durchführung einer Koloskopie empfohlen worden. Das sei von ihr allerdings „mehr oder weniger abgelehnt“ worden, „wobei auch massive Verständigungsschwierigkeiten vorlagen, da die Patientin zumindest damals kaum deutsch sprechen beziehungsweise verstehen konnte“.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Schlichtungsstelle kam nach Auswertung der medizinischen Dokumentation und der Stellungnahmen der Beteiligten zu folgender Bewertung des Sachverhaltes:
Rückblickend bestanden spätestens im Januar 2008 Hinweise auf das Vorliegen eines Dickdarmkarzinoms (rezidivierende Bauchschmerzen, Gewichtsabnahme, Eisenmangelanämie, Ausschluss von Erkrankungen des oberen Gastrointestinaltraktes sowie der gynäkologischen und urologischen Fachgebiete) und damit die Indikation zur Durchführung einer Koloskopie. Der Hausarzt hatte diese Maßnahme offensichtlich in Erwägung gezogen beziehungsweise geplant, jedoch ihre Umsetzung nicht mit dem notwendigen Nachdruck verfolgt. Die von ihm in diesem Zusammenhang angeführten Verständigungsschwierigkeiten hätten unter Berücksichtigung der Verdachtsdiagnose einer schwerwiegenden Erkrankung behoben werden müssen (zum Beispiel Einschaltung eines Dolmetschers, deutsch sprechende Verwandte oder sonstige Bezugspersonen der Patientin). Zu berücksichtigen bei dieser Bewertung ist auch, dass bei der Patientin im Januar 2008 trotz Verständigungsschwierigkeiten eine Ösophago-Gastro-Duodenoskopie durchführbar war. Die Ablehnung der Koloskopie durch die Patientin war in den Krankenunterlagen nicht dokumentiert.

Der Verzicht auf die Darstellung der Notwendigkeit der Koloskopie unter Mithilfe einer sprachkundigen Person im Januar 2008 ist als Behandlungsfehler anzusehen. Es ist aufgrund der klinischen Symptome davon auszugehen, dass die Tumorkrankheit bereits zu diesem Zeitpunkt vorlag und diagnostizierbar war.

Bei korrektem Vorgehen wäre nach ärztlicher Erfahrung damit zu rechnen gewesen, dass der Dickdarmtumor bereits im Februar 2008 einer operativen Therapie zugeführt worden wäre. Das Ausmaß der notwendigen chirurgischen Maßnahmen hätte sich nicht von dem Vorgehen im Juni 2008 unterschieden, das heißt die Hemikolektomie und die Lymphknotenresektionen wären auch im Februar 2008 unvermeidbar gewesen.

Durch das fehlerhafte Vorgehen ist es zu einer Verlängerung der Krankheitsdauer von Februar bis Juni 2008 gekommen. Darüber hinaus bedeutet jede Diagnose- beziehungsweise Therapieverzögerung eines Krebsleidens eine statistische Prognoseverschlechterung, deren Ausmaß allerdings für das individuelle Schicksal nicht verbindlich eingeschätzt werden kann. Im vorliegenden Fall ist nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu beweisen, dass bei einer frühzeitigeren Karzinomdiagnose und Karzinomtherapie der Verlauf messbar hätte beeinflusst werden können. Doch ist die vermehrte psychische Belastung durch das Wissen um die Behandlungsverzögerung und die gesteigerte Metastasenangst infolge der fehlerhaft verspäteten Krebsdiagnose als vermeidbare Gesundheitsbeeinträchtigung zu werten.

Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche im dargestellten Rahmen für begründet und empfahl die außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

HR

Prof. Dr. med. Herbert Rasche

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover