Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Versuch einer anästhesiefreien Frakturreposition bei einem Kind

Attempted Fracture Reduction in a Child without Anesthesia

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2007

Kasuistik

Ein siebenjähriges Mädchen zog sich im Kindergarten eine Unterarmfraktur zu. Die Ulna war im mittleren Schaftdrittel mit einem Achsenknick von zehn, der Radius im oberen Schaftdrittel mit einem Achsenknick von 30 Grad gebrochen. Die primäre Behandlung führte ein niedergelassener Allgemeinchirurg durch. Er unternahm dabei ohne Allgemeinanästhesie oder schmerzlindernde Maßnahmen einen geschlossenen Repositionsversuch und stellte die Fraktur anschließend in einem unaufgeschnittenen zirkulären Oberarmgipsverband ruhig. Wegen des unbefriedigenden Repositionsergebnisses stand für den Folgetag eine Gipskeilung in Aussicht.

Wegen starker Schmerzen und Schwellung der Hand stellte die Mutter ihre Tochter tags darauf in einer kinderchirurgischen Klinik vor. Dort erfolgte die sofortige Gipsentfernung, die Reposition und die Stabilisierung der Frakturen durch elastisch-stabile Maßschienung. Der Heilverlauf vollzog sich störungsfrei ohne Hinterlassung eines Funktionsdefizits.

Die Mutter beklagte, dass ihrem Kind durch den narkosefreien, letztlich erfolglosen Repositionsversuch unnötige Schmerzen zugefügt worden seien. Das Kind sei hierdurch nachhaltig psychisch beeinträchtigt gewesen.

Der in Anspruch genommene Chirurg äußerte sich zu diesem Vorwurf: „Eine Reposition der Fraktur in Narkose ist nicht möglich gewesen, da das Kind nicht nüchtern war. Eine verbale Beruhigung des Kindes ist nicht möglich gewesen, weshalb der Repositionsversuch mehrfach unterbrochen werden musste. Eine Indikation zur primär operativen Frakturbehandlung hat nicht vorgelegen.“

Aus dem Gutachten

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter stellte zwei Fehler fest:

  • Der Repositionsversuch ohne Narkose war ungerechtfertigt und somit fehlerhaft. Dass die Fraktur stellungskorrekturbedürftig war, wurde vom behandelnden Chirurgen selbst festgestellt, da er einen mehrfach unterbrochenen (!) Repositionsversuch durchführte. Dieser Versuch ohne Narkose fügte dem Kind unzumutbare Schmerzen zu. Für eine sofortige Reposition bestand kein Anlass. Man hätte die Fraktur bis zur Nüchternheit beziehungsweise bis zum nächsten Morgen ohne weitere Manipulationen in einer Oberarmgipsschiene ruhigstellen können. Des weiteren war abzusehen, dass die hohe Radiusschaftfraktur einer geschlossenen Reposition gar nicht zugänglich war – auch nicht mit Hilfe einer nachträglichen Gipskeilung.
  • Die Ruhigstellung einer Extremität nach frisch reponierter beziehungsweise manipulierter Fraktur in einem geschlossenen, unaufgeschnittenen Gipsverband ist nur unter der Bedingung einer ununterbrochenen Kontrollmöglichkeit mit sofortiger Gipsspaltung bei Auftreten von Schwellung und/oder Schmerzen vertretbar. Die Entlassung in häusliches Milieu ohne sachkundige Gipskontrolle war fehlerhaft. Aus der Dokumentation der Schwellung von Unterarm und Hand im Befund der klinischen Aufnahmeuntersuchung war zu ersehen, dass der Gips hätte gespalten werden müssen.

Aus den Behandlungsfehlern ergab sich ein Anspruch auf Schmerzensgeld wegen
a) der bei der Frakturmanipulation ohne Narkose zugefügten Schmerzen und
b) der weiterhin ertragenen Schmerzen durch die Schwellung im geschlossenen Gipsverband. Darüber hinaus war von einer mehrere Tage anhaltenden psychischen Beeinträchtigung durch die schmerzhafte Frakturmanipulation auszugehen.

Die Schlichtungsstelle schloss sich den Wertungen des Gutachters uneingeschränkt an und empfahl eine außergerichtliche Regulierung im Sinne des Gutachtens.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover