Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Verzögerte Diagnose einer Hüftkopflösung

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2006

Einleitung
Die schicksalhafte Erkrankung der spontanen Hüftkopflösung (Ephiphyseolysis capitis femoris) betrifft das Präpubertätsalter, vorwiegend bei Knaben. Man unterscheidet entsprechend der unterschiedlichen Anfangssymptomatik die akute Form von der schleichend auftretenden, sogenannten Lenta-Form. Bei der selteneren akuten Hüftkopflösung tritt die Lösung und Dislokation des Hüftkopfes ohne vorherige Warnsymptome nach einem inadäquaten Trauma auf. Bei der Lenta-Form geht der definitiven Hüftkopflösung meist eine uncharakteristische Schmerzsymptomatik mit Funktionsbeeinträchtigung des betroffenen Beines voraus, häufig werden inadäquate Traumen angeschuldigt. Der Beschwerdesymptomatik liegt ein langsames bzw. schrittweises Abgleiten des Hüftkopfes vom Schenkelhals zugrunde. Für das Schicksal der betroffenen Hüfte ist die frühzeitige Diagnose und Therapie der Hüftkopflösung entscheidend.

Kasuistik

Ein 11-jähriges Mädchen klagte seit etwa vier Wochen über Schmerzen in der rechten Hüftregion bei Belastung des rechten Beines. Nach einem Fahrradsturz kam es zur Verstärkung der Schmerzen und es konnte mit dem rechten Bein nicht mehr auftreten. Am Unfalltag erfolgte eine chirurgisch-radiologische Untersuchung in der Unfallambulanz eines Kreiskrankenhauses. Unfallfolgen am rechten Hüftgelenk konnten auf den Röntgenaufnahmen nicht festgestellt werden. Da das rechte Bein nicht belastet werden konnte, wurden Unterarmgehstützen mitgegeben. Die Diagnose lautete: Hüftprellung.

Neun Tage später kam es bei bis dahin unveränderten Schmerzen und Belastungsunfähigkeit des rechten Beines zu einem erneuten Sturz. Die Untersuchung im gleichen Krankenhaus ergab jetzt eine vollständige Lösung des rechten Hüftkopfes mit einem Abknickwinkel von 50 Grad in der axialen Ebene. Noch am Unfalltag erfolgte die geschlossene Reposition des Hüftkopfes und die Stabilisierung mittels Kirschnerdraht und Schrauben. Es schloß sich eine langwierige Behandlung, später auch in anderen Einrichtungen an. Es kam zu einer Defektheilung infolge Teilnekrose des Hüftkopfes. Es verblieb eine erhebliche und schmerzhafte Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk. Vom zuständigen Versorgungsamt wurde zwei Jahre später ein Grad der Behinderung von 40 % bestätigt.

Die Eltern des Kindes warfen dem erstbehandelnden Krankenhaus vor, daß der Schaden bereits bei der Erstvorstellung hätte erkannt und sachgerecht behandelt werden müssen. Da die Diagnose damals nicht gestellt wurde, sei es beim zweiten Trauma zu einer plötzlichen, schweren Verschiebung des Hüftkopfes gekommen, wodurch die Folgeerscheinungen verursacht wurden.

Der verantwortliche Arzt des in Anspruch genommenen Krankenhauses nahm zu diesem Vorwurf Stellung. Auf den bei der Erstvorstellung angefertigten Röntgenaufnahmen sei die Hüftkopflösung nicht zu erkennen gewesen. Die Behandlung des später dislozierten Hüftkopfes sei korrekt erfolgt.

In dem eingeholten orthopädisch-unfallchirurgischen Gutachten wird nach summarischer Darstellung des Behandlungsverlaufes zunächst die zugrundelegende Diagnose erläutert. Bei dem Kind lag die Lenta-Form einer Hüftkopflösung vor, wobei sich die ersten Symptome bis 4 Wochen vor dem ersten Unfall zurückverfolgen ließen. Durch den zweiten Sturz war es akut zum vollständigen Abgleiten des gelösten Hüftkopfes gekommen. Bei der Auswertung der nach dem ersten Sturz angefertigten Röntgenaufnahmen stellt der Gutachter fest, daß bereits zu diesem Zeitpunkt das Hüftkopfgleiten eindeutig erkennbar war, der rechte Hüftkopf war um 20 Grad in der Axialebene abgeglitten. Die 9 Tage später nach dem zweiten Sturz angefertigten Röntgenaufnahmen ergaben dann die vollständige Dissoziation von Hüftkopf und Schenkelhals mit einer Zunahme des Gleitwinkels auf 50 Grad. Die späteren Röntgenaufnahmen, zum Teil in anderen Einrichtungen angefertigt, wiesen dann eine Teilnekrose des Hüftkopfes mit Umbauvorgängen und Deformierung (Entrundung) sowie die Zeichen der Hüftgelenksarthrose aus.

In der Beurteilung der im erstbehandelnden Krankenhaus getroffenen ärztlichen Entscheidungen und Maßnahmen kommt der Gutachter zu folgenden Wertungen:
Die Hüftkopflösung war auf den ersten Röntgenaufnahmen bereits eindeutig zu erkennen. Des weiteren hätte bei dem Alter des Mädchens von vornherein an die Möglichkeit einer Hüftkopflösung gedacht werden müssen. Wenn das beginnende Hüftkopfgleiten bereits bei der Erstvorstellung, als noch keine endgültige Dissoziation von Hüftkopf und Schenkelhals bestand, operativ stabilisiert worden wäre, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit die Hüftkopfnekrose mit den deletären Folgen für das Hüftgelenk vermieden werden können. Die übersehene Hüftkopflösung und das dadurch bedingte Versäumnis der zeitgerechten Behandlung seien als Behandlungsfehler zu werten.

Die Behandlung der vollständigen Hüftkopflösung 9 Tage später erfolgte korrekt, aber zu spät. Das operative Vorgehen sei nicht zu beanstanden. Die später eingetretene Hüftkopfnekrose sei nicht auf operative Fehler, sondern allein auf die verspätet durchgeführte operative Behandlung zurückzuführen.

Die verbliebenen Beschwerden und Funktionseinschränkungen am rechten Hüftgelenk seien vollständig auf den Behandlungsfehler zurückzuführen. Die Behandlung dauerte zur Zeit der Begutachtung noch an. Ein Dauerschaden am rechten Hüftgelenk sei bereits eingetreten, der u. a. eine Einschränkung für die spätere Berufswahl darstelle.

Die Schlichtungsstelle schloß sich den Wertungen des Gutachters an. Der Gutachter beurteilte den Sachverhalt mit Bezug auf aktuelle Literatur korrekt. Die zuerst angefertigten Röntgenaufnahmen weisen bereits eindeutig das beginnende Hüftkopfgleiten in der axialen Ebene aus. Zudem hätte bei dem Alter des Mädchens unbedingt an eine Ephiphyseolysis capitis femoris gedacht werden müssen, da dieses Krankheitsbild bei Hüft- bzw. Beinbeschwerden in diesem Alter in die differential-diagnostischen Erwägungen einbezogen werden muß. Der Diagnosefehler und die daraus resultierende verzögerte Behandlung waren vermeidbar.

Bezüglich der fehlerbedingten Folgen werden vom Gutachter folgende Überlegungen getroffen: Auch die rechtzeitige Diagnose und Behandlung der Hüftkopflösung hätte bis zur Wiedererlangung der vollen Belastbarkeit des rechten Beines einen Zeitraum von etwa 6 Monaten in Anspruch genommen. Als fehlerbedingt könne daher nur die über diesen Zeitraum hinausgehende Behandlung einschließlich weiterer klinischer Behandlungen angesehen werden. Der eingetretene Dauerschaden in Form der Hüftkopfdeformierung und der daraus resultierenden Früharthrose des rechten Hüftgelenkes sei jedoch auf den Behandlungsfehler zurückzuführen. Bei rechtzeitiger Diagnose und adäquater Therapie wäre wahrscheinlich ein Dauerschaden am Hüftgelenk vermieden worden oder aber beträchtlich geringer ausgefallen. Das Ausmaß des bleibenden Schadens und deren Folgen für die spätere Berufswahl blieben einer Begutachtung zum gegebenen Zeitpunkt vorbehalten.

Die Schlichtungsstelle empfahl auf der Grundlage des vorliegenden Gutachtens eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover