Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 05/2010
Kasuistik
Das 21 Tage alte weibliche Neugeborene wurde einem Kinderarzt wegen zu Hause akut aufgetretenen Fiebers vorgestellt. Es wurde eine Temperatur von 39,1 Grad Celsius gemessen. Nach körperlicher Untersuchung erhielt das Kind Nasentropfen sowie als Fiebermittel Paracetamol verordnet. Eine weitere Vorstellung erfolgte zwei Tage später, nachdem am Nachmittag dieses Tages eine Temperatur von 38,8 Grad, Husten, Schnupfen und Erbrechen registriert worden waren. Nach erneuter klinischer Untersuchung wurde zusätzlich Penicillin verordnet. Am darauffolgenden Tag wurde, nachdem zu Hause eine Temperatur von 39,8 Grad gemessen worden war, das Kind zum dritten Mal vorgestellt, klinisch untersucht und mit der Diagnose „persistierendes Fieber“ wieder nach Hause geschickt. Als an diesem Tag die Hebamme bei ihrem Hausbesuch den schweren Krankheitszustand des Kindes bemerkte, veranlasste sie die Aufnahme in der nächsten Kinderklinik. Bei dem zum Aufnahmezeitpunkt sehr schwer kranken Kind wurde eine Sepsis durch Escherichia coli mit Meningoenzephalitis festgestellt. Es kam zu Krämpfen, einem Atemstillstand, den Zeichen einer schweren Hirnschädigung und schließlich nach 25-tägiger Beatmung zum Tod des Kindes.
Die Eltern warfen dem Kinderarzt vor, dass er nicht die richtige Diagnose gestellt und daraus folgend eine entsprechende Therapie veranlasst habe. Der Tod sei auf den Behandlungsfehler zurückzuführen.
Seitens des Kinderarztes wird eingewendet, dass die Mutter bei der zweiten Vorstellung eine stationäre Aufnahme des Kindes abgelehnt und um weitere ambulante Betreuung gebeten hätte. Beim letzten Arztbesuch habe die Mutter angegeben, dass das Kind zwar weiterhin Fieber habe, sich der Zustand aber ansonsten gebessert hätte. Das Kind sei trotz des Fiebers bei den Vorstellungen in der Praxis stets rosig gewesen und habe keine meningitischen Zeichen aufgewiesen. Eine Fehlbehandlung liege nicht vor.
Aussagen des Gutachters
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte kinderärztliche Gutachter kam zu folgenden Feststellungen:
Es habe sich definitionsgemäß um eine Infektion im Neugeborenenalter gehandelt. In diesem Lebensalter müsse daran gedacht werden, dass bei Fieber auch eine Sepsis vorliegen könne. Der behandelnde Kinderarzt hätte daran denken müssen, auch wenn es sich bei Fieber zunächst um ein unspezifisches Symptom handele. Das Erwägen eines Sepsisverdachtes bei einem fiebernden Neugeborenen gehöre zum medizinischen Basiswissen der Kinderheilkunde. Die Meningoenzephalitis hätte am ersten Vorstellungstag noch nicht, bei der zweiten Vorstellung möglicherweise und bei der dritten Untersuchung sicher erkannt werden können.
Der grundlegende Fehler des behandelnden Kinderarztes habe darin bestanden, dass er eine ernste Infektion überhaupt nicht in Betracht gezogen hätte. Die Klinikeinweisung sei in dieser Situation üblich. Die Bestimmung von Laborwerten (Blutbild, Entzündungsparameter, Bakterienkultur) und die Einleitung einer parenteralen, breit wirksamen antibiotischen Behandlung wären geboten gewesen. Die Hirnhautentzündung sei Folge der Sepsis gewesen.
Es sei gegen seinerseits geltende Standards verstoßen, also fehlerhaft gehandelt worden, weil die Möglichkeit einer Sepsis nicht bedacht worden und damit verbunden die rechtzeitige Einleitung einer antibiotischen Behandlung unterblieben sei. Der Fehler hätte bei sorgfältigem Vorgehen vermieden werden können.
Bewertung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle sah sich in Übereinstimmung mit den gutachterlichen Erwägungen und gelangte abschließend zu folgender Bewertung des Sachverhalts:
Bei Neugeboreneninfektionen gelten andere Regeln und Richtlinien als bei älteren Kindern und Erwachsenen. Bei etwa zehn Prozent der Neugeborenen mit höherem Fieber besteht eine Bakteriämie.
Die Symptomatik der Neugeborenensepsis ist uncharakteristisch und variabel. Die hauptsächlichen Symptome einer Sepsis sind Störungen der Thermoregulation, der Atmung und der Funktion von Magen und Darm. Bei klinischen Warnzeichen muss so lange der Verdacht auf eine neonatale Sepsis bestehen, bis das Gegenteil bewiesen ist, das heißt eine Infektion ausgeschlossen oder eine andere Ursache für die Verschlechterung des kindlichen Zustandes gefunden wurde. Bleiben die oftmals diskreten klinischen Zeichen unerkannt, kann sich innerhalb kurzer Zeit das Vollbild des septischen Schocks entwickeln. In der Regel wird bei fiebernden Neugeborenen eine Labordiagnostik angezeigt sein. Die Indikation zur antibiotischen Behandlung bei höherem Fieber bei Neugeborenen besteht generell, auch wenn berücksichtigt wird, dass es sich in mehr als der Hälfte der Fälle um Virusinfektionen handelt. Der Verlauf einer Neugeborenensepsis wird entscheidend vom Zeitpunkt der Diagnose beziehungsweise des Behandlungsbeginns beeinflusst.
In dem zu beurteilenden Fall war die Einleitung weitergehender Maßnahmen, insbesondere einer Antibiose, bereits bei der ersten Vorstellung fehlerhaft unterlassen worden. Die späteren Unterlassungen sind dementsprechend als noch gravierender zu beurteilen. Bei sachgerechtem Vorgehen des behandelnden Kinderarztes wäre der tödliche Ausgang mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen.
Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.