Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Verzögerte Diagnose und Behandlung einer Nahtinsuffizienz der colorektalen Anastomose als schwerer Behandlungsfehler

Delayed Diagnosis and Treatment of Suture Insufficiency of Colorectal Anastomosis as Serious Treatment Error

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 07/2005

Einleitung
Die Undichtigkeit einer Darmnaht, im Besonderen die Nahtinsuffizienz einer Anastomose im Bereich des Magen-Darm-Traktes, ist eine der gefürchtetsten Komplikationen der gastrointestinalen Chirurgie. Die Häufigkeit einer Insuffizienz bei colorektaler Anastomose wird mit 10 bis 15 % angegeben, die Letalität 10 bis 20 %. Die Prognose dieser Komplikation hängt entscheidend vom Zeitpunkt ihrer Erkennung und sachgerechten Behandlung ab. Entsprechend Ursache und klinischem Verlauf werden frühe (1. bis 5. Tag) und späte Anastomoseninsuffizienzen unterschieden. Erstere sind überwiegend auf nahttechnische Probleme oder Mängel, letztere auf pathologische Vorgänge in der Darmwand, wie Durchblutungsstörungen oder Entzündungen zurückzuführen. Aber auch systemische Faktoren können die Entstehung einer Anastomoseninsuffizienz begünstigen, wie z. B. Immunsuppression, chronische Einnahme von NSAR, periphere Arteriosklerose. Die in der Literatur angegebenen Ursachen und Häufigkeiten von Anastomoseninsuffizienzen sagen nichts darüber aus, ob diese im Einzelfall eine unverschuldete Komplikation oder Folge eines (operationstechnischen) Fehlers waren. Als operationstechnische Fehler kämen in Frage: Mangelhafte Nahttechnik, Ausriß von Klammern durch brüskes Vorgehen bei maschineller Anastomose, zu weite Denudierung der zur Anastomosennaht vorgesehenen Darmmanschette, Anastomosennaht unter Spannung.

In der gutachterlichen Praxis ist die Beweisführung bei der Vermutung einer operationstechnisch verschuldeten Anastomoseninsuffizienz nur sehr selten möglich. Einzige Grundlage für die Beurteilung des operationstechnischen Vorgehens ist der Operationsbericht, der, meist vor Kenntnis der Anastomoseninsuffizienz abgefaßt, keinerlei Angaben zu entsprechenden operationstechnischen Details enthält. Die intraoperative Dichtigkeitsprüfung sagt zunächst nichts über die Ursache der verzögert aufgetretenen Anastomoseninsuffizienz aus. Eine eingehende Dokumentation der „standardgemäß“ durchgeführten Anastomosenanlage ist im Operationsbericht nicht zu fordern, dagegen jedoch die Beschreibung objektiver operationstechnischer Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Anastomosenanlage.

Vor diesem Hintergrund konzentriert sich das Interesse des Gutachters zwangsläufig auf die rechtzeitige Erkennung und Behandlung einer Anastomoseninsuffizienz. Jede Störung des postoperativen Verlaufes muß an eine Insuffizienz denken lassen. Richtungsweisende Symptome sind neben der ausbleibenden schnellen Erholung Fieber, ansteigender CRP-Wert, Bauchschmerzen, Sekretion aus der Drainage. Fäkales Sekret beweist unmittelbar die Anastomoseninsuffizienz. Der klinische Verdacht muß unverzüglich durch weiterführende Diagnostik verfolgt werden: Endoskopie, wäßrige Kontrastmitteldarstellung, Sonographie, CT.

Kasuistik

Ein 71-jähriger Mann wurde an einem Karzinom des rektosigmoidalen Überganges operiert. Die Operation einschließlich der maschinellen Anlage der colorektalen Anastomose verlief laut Operationsbericht planmäßig. Die Anastomose wurde abschließend mit Methylenblau auf Dichtigkeit überprüft und für dicht befunden. Ab dem 6. postoperativen Tag trat eine zunehmende Verschlechterung des Allgemeinbefindes mit Fieber und Bauchschmerzen auf. Ein am 7. postoperativen Tag angefertigtes CT ergab den Befund eines Abszesses im kleinen Becken. Seitens des Radiologen wurde der Verdacht auf eine Anastomoseinsuffizienz geäußert und die Verifizierung durch Kontrastmitteldarstellung oder Endoskopie empfohlen. Dieser Empfehlung wurde nicht gefolgt. Unter konservativer Therapie trat eine fortschreitende Verschlechterung des Allgemeinbefindens ein, schließlich mit Ausprägung der Symptomatik einer diffusen Peritonitis. Erst am 16. postoperativen Tag wurde unter dieser Diagnose relaparotomiert. Es erfolgten zunächst nur eine Abszeßeröffnung und Drainage sowie die Anlage einer Transversumkolostomie. Bei fortdauernder Peritonitis wurde 9 Tage später eine erneute Laparotomie durchgeführt. Es fand sich jetzt eine langstreckige Nekrose des präanastomotischen Colon descendens, durch die die eitrige Peritonitis mit Ausbildung von interenterischen Abszessen unterhalten wurde. Trotz Resektion des nekrotischen Darmabschnittes und weiterer programmierter Bauchhöhlenlavagen verstarb der Patient schließlich am septisch-toxischen Organversagen. Dies wurde durch die Obduktion bestätigt.

Der seitens der Angehörigen erhobene Vorwurf bezog sich allein auf die nicht rechtzeitige Erkennung und Behandlung der postoperativen Komplikation.

In der Stellungnahme der in Anspruch genommenen Ärzte wurde der tödliche Ausgang auf vorbestehende Erkrankungen, wie insulinpflichter Diabetes mellitus, Arteriosklerose, ischämische Herzkrankheit zurückgeführt.

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter kam nach kritischer Prüfung der im einzelnen getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen zu folgenden Wertungen:
Die anteriore Sigma-Rektum-Kontinuitätsresektion wurde korrekt durchgeführt. Über das Standardvorgehen hinaus wurde eine Dichtigkeitsprüfung der Anastomose vorgenommen. Die Ausbildung der (späten) Anastomoseninsuffizienz war als unverschuldete Komplikation zu beurteilen. Die Anastomoseninsuffizienz wurde jedoch zu spät diagnostiziert und primär nicht chirurgisch korrekt behandelt. Die Anastomoseninsuffizienz hätte spätestens am 7. postoperativen Tag abgeklärt werden und noch am selben Tag die Indikation zur Re-Laparotomie gestellt werden müssen. Des weiteren hätte bei der ersten Re-Laparotomie eine sorgfältige Revision der Anastomosenregion mit sicherer Drainage des Entzündungsgebietes erfolgen müssen, ggf. programmierte Re-Laparotomien. Dies wurde auch bei der um 9 Tage verspätet ausgeführten Re-Laparotomie unterlassen. Bei rechtzeitiger und sachgerechter Revision der Anastomoseninsuffizienz wären alle Chancen, die Komplikation zu überstehen, gewahrt geblieben. Die fortschreitende Peritonitis und der tödliche Verlauf seien auf die Behandlungsfehler (um 9 Tage verzögerte operative Revision, unterlassene Sanierung des Entzündungsherdes) zurückzuführen.

Die Schlichtungsstelle schloß sich der Argumentation des Gutachters an. Mit dem Untätigbleiben der Ärzte wurde das Risiko des tödlichen Ausganges ganz entscheidend erhöht. Zwar war davon auszugehen, daß auch bei zeitgerechter und korrekter Behandlung der Anastomoseninsuffizienz ein tödlicher Ausgang nicht sicher zu verhindern war. Im vorliegenden Fall war aber aufgrund der angeführten Umstände von einem schweren Behandlungsfehler mit daraus resultierenden beweisrechtlichen Konsequenzen zu ungunsten der Arztseite auszugehen.

Unter dem Postulat des schweren Behandlungsfehlers mußte der Regelverstoß lediglich geeignet sein, den Schaden herbeizuführen. Dies traf hier zu. Die Kausalität war nicht in hohem Maße bzw. gänzlich unwahrscheinlich oder vollständig ausgeschlossen, so daß hier nicht von einem Entfallen der Beweislastumkehr auszugehen war. Insoweit wäre deshalb von der Arztseite zu beweisen, daß auch bei zeitgerechter und sachgerechter Behandlung der Anastomoseninsuffizienz der tödliche Ausgang eingetreten wäre. Dieser Beweis ist nicht zu führen. Unter Zugrundelegung der vorstehenden Erwägungen war daher die verzögerte Behandlung der Anastomoseninsuffizienz als ursächlich für den eingetretenen Tod anzusehen.

Die Schlichtungsstelle sah Schadenersatzansprüche für begründet an und empfahl einen außergerichtlichen Vergleich.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover