Delayed Diagnosis of Acute Appendicitis
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 04/2003
Einleitung
Die „klassische“ Symptomatik der akuten Appendizitis ist allseits bekannt, hier kommt es nur selten zu diagnostischen Fehlern. Etwa jeder fünfte Fall von akuter Appendizitis verläuft „atypisch“, viele akute Baucherkrankungen können durch eine akute Appendizitis imitiert werden. Hier liegt der Grund für die häufigen, teils unverschuldeten, teils verschuldeten Verzögerungen der Diagnose. Trotz allen Fortschritts der Medizin, insbesondere auch bezüglich der diagnostischen Möglichkeiten, beruht die rechtzeitige Diagnose der akuten Appendizitis nach wie vor in erster Linie auf dem klinischen Untersuchungsbefund. Die apparatetechnische Entwicklung hat bisher zu keiner entscheidenden Verbesserung der erstrebenswerten Frühdiagnose der akuten Appendizitis bei atypischem Verlauf beigetragen. Dem medizinischen Laien ist dies in der Regel nicht bewußt. Daher wird in vielen Schlichtungsanträgen zum Ausdruck gebracht, daß angesichts des medizinischen Fortschrittes „so etwas (die verschleppte Appendizitis-Diagnose) nicht mehr passieren dürfe“.
Nachfolgende Falldarstellungen mögen die Situation illustrieren
I.
Eine 35-jährige Patientin erkrankte mit leichten Bauchschmerzen und wäßrigen Durchfällen. Das Allgemeinbefinden war offenbar nur leicht gestört, so daß die Patientin versuchte, zunächst ohne ärztliche Behandlung auszukommen. Da die Durchfälle aber nicht nachließen, wurde sie 7 Tage nach Krankheitsbeginn in einer Medizinischen Klinik zur diagnostischen Abklärung aufgenommen. In dieser Klinik erfolgten eine korrekte Aufnahmeuntersuchung sowie eine umfassende gastroenterologische Diagnostik einschließlich wiederholter Sonographien, Gastroskopie, Koloskopie, Laborkontrollen. Klinische Befundkontrollen wurden täglich dokumentiert. Zweimal wurde der Chirurg konsultiert. Am 5. Behandlungstag trat plötzlich eine starke Befundverschlechterung mit Fieber und verstärkten Unterbauchschmerzen ein. Die Kontrollsonographie ergab jetzt erstmalig einen Abszeß im rechten Unterbauch. Wegen einer vorbestehenden gynäkologischen Anamnese wurde dieser Abszeß auf das innere Genitale bezogen, die Patientin wurde in die Gynäkologische Klinik verlegt. Hier erfolgte noch am gleichen Tag die Laparoskopie. Es fand sich ein bereits älterer perityphlitischer Abszeß auf dem Boden einer perforierten Appendizitis. Die Appendix wurde über eine Laparotomie entfernt, die Abszeßhöhle wurde gespült und drainiert. Der postoperative Verlauf war unkompliziert.
Die Patientin führte die verzögerte Diagnose auf ärztliches Verschulden zurück. Hätte man die Diagnose rechtzeitig gestellt, so wäre die Krankheitsdauer verkürzt worden, es wären ihr die belastenden Untersuchungen erspart geblieben und es wäre nicht zu der großen Bauchnarbe gekommen, da die Appendix im Frühstadium laparoskopisch hätte entfernt werden können.
Im chirurgischen Gutachten werden zunächst ausführliche Erläuterungen zur Problematik der Appendizitis-Diagnose bei atypischem Verlauf gegeben. In der Beurteilung der in der in Anspruch genommenen Klinik getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen kommt der Gutachter zu dem Ergebnis, daß den Ärzten keine Sorgfaltsmängel oder Behandlungsfehler vorgeworfen werden können. Der Krankheitsbeginn lag bereits 7 Tage vor der Klinikaufnahme. Weder die Anamnese noch der klinische Untersuchungsbefund wiesen auf eine akute Appendizitis hin. Im Vordergrund standen die Durchfälle, zu deren Abklärung alle erforderlichen diagnostischen Maßnahmen durchgeführt wurden. Die Verlaufskontrolle erfolgte in jeder Hinsicht korrekt und unter Einbeziehung des Chirurgen. Die Abszeßbildung wurde rechtzeitig festgestellt sowie unverzüglich und sachgerecht behandelt.
Die Schlichtungsstelle folgte dem Ergebnis des chirurgischen Gutachtens. Im Rahmen der 5-tägigen stationären Behandlung in der Inneren Klinik wurde eine korrekte Verlaufskontrolle mit umfassender Diagnostik einschließlich Kontrolluntersuchungen durchgeführt. Die Untersuchungsbefunde wurden richtig bewertet. Die verspätete Diagnose der Appendizitis bzw. des perityphlitischen Abszesses war nicht ärztlich verschuldet. Der Arzt schuldet dem Patienten grundsätzlich die sorgfältige Diagnostik, nicht die richtige Diagnose.
II.
Ein 10-jähriger Junge erkrankte mit Bauchschmerzen, Fieber, Erbrechen und Durchfällen. Am 2. und 3. Erkrankungstag erfolgte Behandlung in einer allgemeinmedizinischen Praxis. Dort wurde am 2. Behandlungstag eine Bauchsonographie durchgeführt mit dem Befund: Appendix geschwollen, kein Abszeß. Daraufhin erfolgte die Überweisung in eine chirurgische Gemeinschaftspraxis mit Belegabteilung. Dort wurde das Kind untersucht und nochmals sonographiert. Die Chirurgen stellten eine Lympadenitis mesenterialis fest und wiesen das Kind in die hausärztliche Behandlung zurück mit der Empfehlung von Laboruntersuchungen. Diese wurden am nächsten Tage von der Hausärztin veranlaßt. Ergebnis: Leukozyten 13.900, CRP 96 mg/l. Diese Befunde wurden der chirurgischen Gemeinschaftspraxis noch am gleichen Tage zugefaxt. Das Kind wurde wiederum dorthin überwiesen. Aufgrund einer nochmaligen Sonographieuntersuchung wurde an der Diagnose Gastroenteritis mit Lympadenitis mesenterialis festgehalten, es erfolgte wiederum Rücküberweisung an die Hausärztin, die die Weiterbehandlung unter dieser Diagnose durchgeführte. 2 Tage später kam es zu einer akuten Verschlechterung. Die Mutter brachte das Kind in die chirurgische Universitätsklinik am Wohnort. Die unverzüglich ausgeführte Operation ergab eine perforierte Appendizitis mit großem, sekundär in die Bauchhöhle perforierten perityphlitischen Abszeß und eine diffuse eitrige Peritonitis. Wegen der entzündlichen Veränderungen im Ileocoecalbereich mußte statt der einfachen Appentektomie die Ileocoecalresektion ausgeführt werden. Der postoperative Verlauf war völlig komplikationslos.
Die Mutter des Kindes sah die Ursache der verzögerten Diagnostik und Behandlung sowie die erforderliche Ausweitung der Operation in fehlerhaften Entscheidungen der niedergelassenen Chirurgen.
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter beurteilte die von den niedergelassenen Chirurgen getroffenen Entscheidungen als fehlerhaft. Es habe zwar zu den jeweiligen Vorstellungen eine ausreichende Untersuchung stattgefunden. Die Untersuchungsbefunde seien aber in Verbindung mit Anamnese und den Vorbefunden nicht richtig bewertet worden. Im einzelnen:
Bereits bei der Erstuntersuchung in der Chirurgischen Praxis war zumindest von der Verdachtsdiagnose einer akuten Appendizitis auszugehen (Überweisungsdiagnose: Akute Appendizitis, Sonographie: Verdickter Appendix, Klinisch abdominaler Spontan- und Druckschmerz, Fieber). Das Kind hätte sofort stationär aufgenommen und zumindest kurzfristig kontrolliert werden müssen.
Die Verdachtsdiagnose war durch den sonographischen Nachweis vergrößerter mesenterialer Lymphknoten nicht zu entkräften.
Durchfall ist bei Appendizitis im Kindesalter bekanntermaßen eine häufige Begleiterscheinung. Die ausschließliche Orientierung auf eine Gastroenteritis war nicht gerechtfertigt.
Es hätten sofort Laboruntersuchungen mit unverzüglicher Auswertung veranlaßt werden müssen. Die Rückdelegierung von Laboruntersuchungen an die Hausärztin mit der Folge, daß diese Untersuchungen erst am Folgetag durchgeführt wurden, war fehlerhaft.
Auch nach Kenntnisnahme der Laborbefunde wurde die akute Appendizitis bzw. eine chirurgische Baucherkrankung weiterhin nicht in Betracht gezogen mit der Folge der weiteren Verzögerung der Diagnose.
Schließlich monierte der Gutachter die Unterlassung der rektalen Untersuchung.
Die Schlichtungsstelle folgte der Beweisführung des Gutachters. Die aufgezeigten Behandlungsfehler hatten eine Verzögerung von stationärer Aufnahme und Operation von 5 Tagen zur Folge. Aus dieser Verzögerung ergab sich ein Anspruch auf Schmerzensgeld. Da das Kind erst am 4. Erkrankungstag an die Chirurgen überwiesen wurde, konnte nicht mit ausreichender Sicherheit gefolgert werden, daß der Eingriff sich auf die einfache Appendektomie beschränkt hätte, wenn er zu einem früheren Zeitpunkt, also frühestens am 4. Erkrankungstag durchgeführt worden wäre.
III.
Ein 15-jähriger Patient wurde mit der Diagnose „akute Appendizitis“ eingewiesen. Im Aufnahmebefund sind klassische Anamnese und Symptomatik der akuten Appendizitis dokumentiert, u. a. Druckschmerz und Loslasschmerz im rechten Unterbauch, Fieber, Leukozyten 20.600. Der diensthabende Arzt der Chirurgischen Klinik veranlaßte die Operationsvorbereitung, die Prämedikation und den Transport in den Operationssaal. Ob dies nach telefonischer Kontaktaufnahme mit dem chirurgischen Hintergrunddienst geschah, ist nicht aktenkundig. Der den chirurgischen Hintergrunddienst versehene Oberarzt untersuchte den Patienten nach Eintreffen im Operationssaal im prämedizierten Zustand selbst noch einmal und veranlaßte daraufhin, die Operation nicht durchzuführen. Aufgrund welcher Befunde diese Entscheidung getroffen wurde, geht aus den Behandlungsunterlagen nicht hervor.
Die Operationsindikation wurde 24 Stunden später gestellt. Es fand sich eine perforierte Appendizitis mit frischer diffuser Peritonitis und Douglas-Abszeß. Nach Appendektomie und Bauchhöhlenspülung war der Verlauf zunächst unkompliziert, zwei Wochen später mußte jedoch noch einmal ein interenterischer Abszeß eröffnet werden.
In diesem Falle war der Fehler eindeutig. An der Diagnose einer akuten Appendizitis bestand kein Zweifel. Es lag kein erkennbarer Grund vor, diese Diagnose zu revidieren und die Operationsindikation zu kassieren. Die klinische Diagnose der akuten Appendizitis ist die Indikation zur Appendektomie. In diesem Falle erkannte die Schlichtungsstelle auf einen schweren Behandlungsfehler mit der Folge, daß im Zuge der Beweislasterleichterung für die Patientenseite die verzögerte Operation als Ursache für die eingetretenen Folgen, insbesondere für den interenterischen Abszeß und die damit verbundene erneute Operation und stationäre Behandlung anzusehen waren.
Zusammenfassung
Die verzögerte Diagnose einer akuten Appendizitis ist bei den nicht „klassischen“ Verlaufsformen häufig unverschuldet. Ist der Vorwurf einer ärztlich verschuldeten Diagnoseverzögerung zu prüfen, so orientiert sich die Beurteilung allein am Maßstab der ärztlichen Sorgfalt:
- Wurde der Patient sorgfältig untersucht?
- Wurden die Befunde richtig gewertet (akute Appendizitis als Differential-Diagnose!)?
- Erfolgte eine ausreichende Verlaufskontrolle einschließlich des Einsatzes zusätzlicher Untersuchungen?
- Welche Befunde rechtfertigten eine – ex post ungerechtfertigte – Verzögerung oder Unterlassung der Operation?
- Läßt sich der Vorgang anhand der Behandlungsdokumentation mit ausreichender Genauigkeit nachvollziehen?
Die Klärung dieser Fragen läßt fast immer eine Differenzierung zwischen ärztlich verschuldeter und unverschuldeter Diagnoseverzögerung treffen.