Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 07/2006
Einleitung
Das Blasenkarzinom ist der häufigste maligne Tumor des Harntraktes, er tritt bei Männern etwa dreimal häufiger auf als bei Frauen. Die Tumorinzidenz steigt jenseits des 40. Lebensjahres deutlich an. Die Primärsymptomatik des Blasenkarzinoms ist anfänglich fehldeutig, Initialsymptom ist in etwa 75 % der Fälle die schmerzfreie, intermittierende Makrohämaturie bei konstanter Mikrohämaturie. Miktionsbeschwerden treten oft erst nach längerer Latenzzeit auf und sind primär häufig durch einen überlagernden Infekt bedingt. Bei über 40-jährigen Männern sollte jede Dysurie, Zystitis und/oder dauerhaft unbeeinflußbare Makro-/Mikrohämaturie an ein Blasenkarzinom denken lassen und Veranlassung zu einer weiterführenden urologischen Diagnostik sein.
Kasuistik
Ein 55-jähriger Patient wandte sich an einen niedergelassenen Urologen wegen seit etwa zwei Wochen bestehender Pollakisurie mit zum Teil imperativem Harndrang. Zum Zeitpunkt der urologischen Untersuchung bestand gerade Beschwerdefreiheit. Nach Durchführung einer transrektalen Sonographie der Prostata wurde die Symptomatik als abgelaufene Prostatitis gedeutet. Eine Wiedervorstellung wurde bei Wiederauftreten von Beschwerden vereinbart.
21 Monate später erfolgte die nächste Vorstellung bei dem Urologen, nachdem vorübergehend eine Makrohämaturie, vermeintlich im Rahmen einer Zystitis bestanden hatte. An Untersuchungen wurden jetzt bakteriologische und zytologische Urinuntersuchung, Sonographie, Ausscheidungsurogramm und Urethrozystoskopie durchgeführt. Außer einer erheblichen Hämaturie und Leukozyturie ließen sich keine pathologischen Befunde feststellen. Nun wurde unter der Diagnose „Reizblasenbeschwerden“ eine Therapie mit Detrositolâ eingeleitet, die anfänglich auch zu einer Besserung führte.
Die nächste Vorstellung erfolgte drei Monate später, jetzt mit verstärkten dysurischen Beschwerden. Die Untersuchung beschränkte sich auf eine zytologische Urinuntersuchung. Unter der Diagnose einer chronischen Cystitis wurde jetzt eine antibiotische Langzeittherapie mit Nitrofurantoin eingeleitet. Bei einer Kontrolluntersuchung 2 Monate später bestand die Blasensymptomatik weiterhin mit den Leitsymptomen Dysurie und Pollakisurie. Der zytologische Harnstatus war zu diesem Zeitpunkt unauffällig.
Weitere 5 Monate später stellte sich der Patient letztmalig bei dem hier in Anspruch genommenen Urologen vor wegen eines nunmehr dauerhaft bestehenden Harndrangs vor. An Untersuchungen wurde wiederum lediglich der zytologische und bakteriologische Urinstatus durchgeführt, die jetzt hochgradige pathologische Befunde ergaben. Eine weiterführende urologische Diagnostik wurde auch diesmal nicht eingeleitet.
Eine Woche später wurde an anderer Stelle eine Zystoskopie durchgeführt, bei der papilläre Strukturen im Bereich der linken Blasenhälfte, am Blasenhals und am Blasendach festgestellt wurden. Der Verdacht eines Harnblasenkarzinoms bestätigte sich durch Biopsie. Die Behandlung bestand in der radikalen Zysto-Prostato-Vesikulektomie mit Anlage eines Ileum-Conduits. Tumorklassifikation: pT1, G3, N0, M0, Resektion R1. Der Heilverlauf war, soweit aus dem der Schlichtungsstelle vorliegenden Behandlungsunterlagen zu entnehmen ist, ungestört. Über den weiteren Fortgang des Tumorleidens lagen keine Informationen vor.
Der Patient wirft dem erstbehandelnden Urologen vor, das Blasenkarzinom zu spät diagnostiziert und dadurch eine weniger einschneidende Behandlung verhindert zu haben.
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte urologische Gutachter beurteilte die von dem in Anspruch genommenen Urologen getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen wie folgt:
In den ersten zwei Jahren der Behandlung wurde eine ausreichende urologische Abklärung der Beschwerden durchgeführt. Die Diagnose einer abgelaufenen Prostatitis und später einer chronischen Zystitis waren seinerzeit begründet. Fehler oder Versäumnisse seien in diesem Behandlungszeitraum nicht feststellbar.
Anders dagegen seien die Maßnahmen in den letzten 5 Monaten der Behandlung zu beurteilen. Jetzt war von einer langfristig persistierenden Symptomatik im Sinne von erheblichen Miktionsstörungen, Hämaturie und Harnwegsinfekt auszugehen. Die Art und Chronizität der Symptomatik hätte jetzt zwingend an die Möglichkeit eines Blasenkarzinoms denken lassen müssen mit der Konsequenz der unverzüglichen endoskopischen und zytologischen bzw. histologischen Abklärung. Die Unterlassung dieser weiterführenden Diagnostik, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits zu Beginn der zweiten Behandlungsphase zur Diagnose und somit zur definitiven Therapie geführt hätte, sei als vermeidbarer Behandlungsfehler zu werten.
Als Folge der um fünf Monate fehlerhaft verzögerten Diagnose des Blasenkarzinoms werden festgestellt: Ständige Blasenbeschwerden mit Pollakisurie und Harndrangssymptomatik mit entsprechenden Behinderungen im privaten und im beruflichen Bereich (Busfahrer!). Eine negative Auswirkung der Verzögerung der Diagnose auf die Prognose des Tumorleidens sei dagegen nicht anzunehmen. Es wäre davon auszugehen, daß insbesondere im Hinblick auf den Malignitätsgrad des Tumors (G3) auch 5 Monate früher die radikale Zysto-Prostato-Vesikulektomie als die befundangemessene Therapieoption gegolten hätte. Da des weiteren bei der Operation 5 Monate später keine Lymphknotenmetastasierung vorlag, sei eher unwahrscheinlich, daß die Therapieverzögerung eine ungünstige Auswirkung auf die Langzeitprognose zur Folge gehabt hat.
Die Schlichtungsstelle folgte dieser Entschätzung des urologischen Gutachters und empfahl, die Frage einer außergerichtlichen Klärung zu prüfen.