Delayed Diagnosis of Small Bowel Obstruction
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 01/2008
Kasuistik
Eine 16-jährige Jugendliche wandte sich wegen akut aufgetretener Bauchschmerzen und Erbrechens an einen niedergelassenen Gynäkologen. Es bestand ein Zustand nach einer länger zurückliegenden Appendektomie. Der Arzt führte eine gynäkologische Untersuchung durch und nahm die Patientin in die von ihm betreute gynäkologische Belegklinik unter der Diagnose einer akuten Adnexitis auf. Am zweiten Behandlungstag wurde der Arzt telefonisch darüber informiert, dass die Beschwerden zugenommen hätten und insbesondere ein Erbrechen aufgetreten sei. Die telefonische Anordnung lautete: Bei Bedarf eine Ampulle Cerucal i.v., Führung eines vom Pflegepersonal auszufüllenden Überwachungsblattes. Eine klinische Kontrolluntersuchung erfolgte nicht.
An den beiden folgenden Behandlungstagen wurde der zuerst in Anspruch genommene Arzt durch eine Fachärztin für Gynäkologie vertreten. Nach zunehmender schmerzhafter Bauchsymptomatik und Verschlechterung des Allgemeinzustandes erfolgte zwei Tage später eine chirurgische Konsiliaruntersuchung. Unter der Diagnose eines mechanischen Ileus wurde die Patientin in die Chirurgische Klinik übernommen und unverzüglich operiert. Es fanden sich: ein verwachsungsbedingter Strangulationsileus am unteren Ileum mit vollständiger Nekrose des zwölf Zentimeter langen prästenotischen Dünndarmsegmentes sowie eine extreme Überdehnung der vorgeschalteten Dünndarmschlingen mit irreversibler Darmwandschädigung auf einer Strecke von cirka 80 Zentimeter, bei fibrinös eitriger Durchwanderungsperitonitis. Die Adnexe waren sekundär in den Entzündungsprozess einbezogen. Es erfolgte eine Ileozökalresektion mit Ileo-Aszendostomie, wobei cirka 100 Zentimeter Dünndarm entfernt werden mussten. Der postoperative Heilverlauf war zwar ungestört, in Folge des Ileumverlusts war die Rekonvaleszenz jedoch erheblich verzögert. Es verblieben Beeinträchtigungen durch Gewichtsverlust und Leistungsmangel sowie täglich vier bis sechs durchfällige Stühle. Im Rahmen einer zwei Jahre später durchgeführten gastroenterologischen Untersuchung wurde ein Malassimilationssyndrom im Sinne eines Kurzdarmsyndroms festgestellt, was jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht spezifisch substitutionsbedürftig war.
Die Patientin vermutet, dass die ausgedehnte Darmresektion mit den Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand durch ärztliche Behandlungsfehler verursacht worden sei. Die Ileusdiagnose sei zu spät gestellt worden. Bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung wären die Folgeschäden vermieden worden.
Der in Anspruch genommene Arzt nahm zu diesem Vorwurf wie folgt Stellung. Am zweiten Behandlungstag sei die Patientin durch Übelkeit und Erbrechen auffällig geworden. Die Bauchdecken seien aber als weich befunden worden. Er habe eine Überwachung durch das Pflegepersonal angeordnet. Der Behandlungsverlauf ab dem dritten Tag falle nicht in seine Zuständigkeit.
Gutachter erkennt auf vermeidbaren Behandlungsfehler
Die Schlichtungsstelle ließ den Behandlungsverlauf durch einen chirurgischen Gutachter beurteilen, der zu folgendem Ergebnis kam: Es handelte sich um eine akute, unverzüglich abzuklärende Baucherkrankung, deren Ursache mit einer einmaligen klinischen Aufnahmeuntersuchung nicht zu sichern war. Unabhängig vom primär in Anspruch genommenen Fachgebiet hätten klinische Kontrolluntersuchungen und – nach Maßgabe der klinischen Befunde – weiterführende diagnostische Maßnahmen veranlasst werden müssen. Die Folgen der chirurgischen Erkrankung waren chirurgisch beziehungsweise gastroenterologisch zu beurteilen.
Der Gutachter musste nach Prüfung der Behandlungsunterlagen ferner feststellen: Es wurden während der stationären Behandlung bis zum dritten Behandlungstag keine klinischen Kontrolluntersuchungen durchgeführt. Trotz Zunahme der Beschwerden hat auch noch am dritten Behandlungstag kein Arzt die Patientin gesehen, es wurden lediglich telefonische Anweisungen gegeben. Eine chirurgische Baucherkrankung hätte von vornherein in Betracht gezogen werden müssen. Spätestens am dritten Behandlungstag wären weiterführende Untersuchungen und die Hinzuziehung eines Chirurgen erforderlich gewesen.
Auch aus dem fortgeschrittenen Operationsbefund sei zu schließen, dass bei korrekter klinischer und bildgebender Diagnostik die Diagnose des Ileus zwei Tage früher hätte gestellt werden können und müssen. Die Ileusdiagnose wurde somit fehlerhaft um wenigstens zwei Tage verzögert. Die Folge war eine durch Überdehnung und Toxinpermeation bedingte langstreckige Darmwandschädigung, die zu einem Verlust von cirka 100 Zentimeter Dünndarm führte. Dieser langstreckige Darmverlust wäre mit ausreichender Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen, wäre die Operation zwei Tage früher ausgeführt worden. Dadurch hätte man sich auch auf die kurzstreckige Resektion des total nekrotischen Darmsegmentes beschränken können, was keine Auswirkungen auf die Resorptionsleistung des Dünndarms gehabt hätte.
- Als Folgen des vermeidbaren Behandlungsfehlers werden gesehen:
- Der erweiterte Eingriff als solcher mit verlängerter klinischer Behandlung und Rekonvaleszenz.
- Die durch den Darmverlust bedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen mit Gewichtsverlust, Leistungsmangel, Durchfällen.
- Beeinträchtigung der Lebensqualität, Schulausfälle, häufige ärztliche Behandlungen.
Inwieweit der Dünndarmverlust zu einem Dauerschaden im Sinne eines substitutionsbedürftigen Kurzdarmsyndroms führt, war zum Begutachtungszeitpunkt noch nicht endgültig zu beurteilen. Dies wäre Aufgabe eines noch einzuholenden gastroenterologischen Gutachtens.
Die Schlichtungsstelle schloss sich den Wertungen des Gutachters in allen Punkten an und empfahl eine außergerichtliche Regulierung mit dem Hinweis, die Frage eines möglicherweise fehlerbedingten Dauerschadens in angemessener Zeit durch ein gastroenterologisches Gutachten klären zu lassen.