Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Vorzeitige Impfung

Erschienen im Nds. Ärzteblatt 9/2015

Kasuistik

Im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens war die Behandlung durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin zu prüfen. Das Mädchen ist das einzige Kind einer zur Geburt 28 Jahre alten Zweit-Gravida, die Eltern sind gesund. Die Geburt erfolgte im März 2007 in der 41+4 Schwangerschaftswoche per Sectio, Geburtsgewicht 3.800 Gramm, Länge 54 Zentimeter, Kopfumfang 36 Zentimeter, APGAR 9/10/10, Nabelarterien-pH 7,34. Hörtests wie OAE und BERA waren ebenfalls unauffällig. In motorischer Hinsicht anfangs altersgerechtes Erreichen der sogenannten „Meilensteine“ (Drehen mit zwei, Krabbeln mit fünf, Sitzen mit sechs, freies Gehen mit zwölf Monaten). Die Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U6 waren laut Vorsorgeheft unauffällig, bei der Vorsorgeuntersuchung U7 (2009) waren Sprachentwicklungs- und Wahrnehmungsstörungen vermerkt, bei der U8 „Erfreuliche Entwicklungsfortschritte“ und bei der U9 „Dyslalie“. Laut Impfausweis erfolgten zeitgerecht (in drei verschiedenen Kinderarztpraxen) von Mitte 2007 bis Anfang 2008 die sogenannten Sechsfachimpfungen (mit Infanrix®; also Impfung gegen Diphtherie, Tetanus, Polio, Pertussis, Haemophilus influenzae Typ B und Hepatitis B) und Impfungen gegen Pneumokokken (Prevenar®), im Alter von sechseinhalb Monaten die erste (dies ist die kritisierte) und im Alter von 14 Monaten dann die zweite Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (jeweils Priorix®).

Bei einer stationären Behandlung im Juni 2011 ergab die Untersuchung des Kindes eine um drei bis 13 Monate verzögerte Entwicklung, das Sprechen war am auffälligsten betroffen. Ein MRT des Neurocranium war unauffällig. Im Sommer 2011 ergab sich ein (allerdings nur vorübergehender) Verdacht auf eine Epilepsie, später im Herbst/Winter 2011 wurde eine kombinierte Entwicklungsstörung mit Rückstand in der Sprachentwicklung beschrieben. 2012 wurden unter logopädischer Behandlung Fortschritte verzeichnet. Eine Untersuchung in einer Universitätsklinik vom Sommer 2012 ergab eine Sprachentwicklungsstörung mit unterdurchschnittlichem Sprachverständnis ohne Hinweis für eine klinisch relevante periphere Hörstörung. Ein Sozialpädiatrisches Zentrum betreute das Kind ab Herbst 2011, es beschrieb damals eine expressive Sprachentwicklungsstörung und unreifes Spielverhalten sowie Auffälligkeiten des Kommunikationsverhaltens. Im Jahr 2012 wurden, neben einer expressiven Sprachentwicklungsstörung, weitere Auffälligkeiten im Sozialverhalten und kombinierte Entwicklungsstörungen beschrieben, es wurde eine Fortsetzung von Ergo- und Logotherapie empfohlen. Im Frühjahr 2013 wurden bei knapp durchschnittlichem Lern- und Leistungsverhalten noch Fein- und Graphomotorik-Auffälligkeiten im Sinne eines verlangsamten Arbeitstempos berichtet. Die letzte bekannte Untersuchung im Januar/Februar 2014 nennt Lern- und Leistungsmöglichkeit knapp innerhalb der mittleren Verteilungsbreite bei verlangsamter Fein- und Graphomotorik sowie eine sogenannte Autismus-Spektrum-Störung (atypischer Autismus), wobei das Kind nun die erste Klasse der Regelgrundschule mit Unterstützung und Schulbegleitung besucht.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Die Eltern des Kindes werfen dem Kinderarzt eine Fehlbehandlung vor, indem gesundheitliche Schäden (tiefgreifende Entwicklungsstörungen; atypischer Autismus) nach einer vorzeitigen Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln eingetreten seien. Zu dem Vorwurf entgegnet der Kinderarzt, dass aus seiner Sicht die beschriebenen Auffälligkeiten des Kindes nicht im ursächlichen Zusammenhang mit einer zu früh erfolgten Masern-, Mumps- und Röteln-Impfung stünden.

Gutachten

Der Gutachter, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, führt aus, dass die Impfung gegen Mumps, Masern und Röteln (MMR) eine Impfung zum Schutz vor den genannten Viruserkrankungen sei. Der Impfstoff sei ein sogenannter Lebend-Impfstoff. Die ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO) empfehle diese Schutzimpfung für alle Kinder ab einem Alter von elf Monaten, mit einer zweiten – also Auffrischungsimpfung – im Alter von 15 bis 24 Monaten. Der Impfstoff sei in Europa ab einem Alter von neun Monaten zugelassen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfehle die Impfung für alle Kinder ab zwölf Monaten. STIKO und WHO würden sich in bestimmten Fällen bereits für eine Impfung ab einem Lebensalter von neun Monaten aussprechen, zum Beispiel vor Aufnahme in Gemeinschaftseinrichtungen oder bei Kindern aus Endemiegebieten. In Ländern, in denen sowohl eine hohe Masern- als auch eine hohe HIV-Häufigkeit vorliegen, könne die Impfung bereits ab einem Alter von sechs Monaten erfolgen, sofern bei dem betroffenen Kind keine schwere Immundefizienz vorliege. Eine Impfung vor dem Alter von neun Monaten sei möglich, man müsse aber aufgrund von mütterlichen Antikörpern mit einer unzureichenden Immunantwort rechnen, sodass ins-gesamt drei Impfungen nötig seien.

Die Impfung sei im vorliegenden Fall im Alter von sechseinhalb Monaten erfolgt, also vor dem international empfohlenen Alter. Eine aktuelle Studie habe die MMR-Impfung bei Kindern im Alter von acht Monaten gegenüber Kindern im Alter von zwölf Monaten verglichen, hier hätten sich keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Verträglichkeit und der Entwicklung einer Immunantwort gefunden. Bezüglich der technischen Durchführung der Impfung habe es laut Aktenlage keinen Hinweis auf eine unsachgemäße Durchführung gegeben. Bezüglich des gewählten Zeitpunktes sei die Impfung nicht fachgerecht durchgeführt worden, da sie außerhalb der Zulassung verabreicht und keine Begründung gegeben worden sei, warum sie vorzeitig appliziert wurde. Die MMR-Impfung werde in der Regel gut vertragen, es könne nach erfolgter Impfung zu Rötung, Schwellung und Schmerzen an der Einstichstelle kommen sowie fünf bis zwölf Tage nach der Impfung zu Fieber; im Rahmen von Fieber seien auch Fieberkrämpfe möglich. Da es sich um einen Lebendimpfstoff handelt, könnte nach der Impfung in seltenen Fällen eine abgeschwächte Form der Erkrankung auftreten, die sogenannten Impfmasern. Da bei dem Kind am Impftermin keine Erkrankung beschrieben worden sei, habe es aus medizinischer Sicht keine Kontraindikation gegen die Impfung gegeben; auch die später diagnostizierte Entwicklungsverzögerung sei ebenfalls keine Kontraindikation.

Im zeitlichen Zusammenhang mit der MMR-Impfung würden gelegentlich Verdachtsfälle von neurologischen Folgeerkrankungen berichtet; das zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) habe in seiner Datenbank von 2001 bis 2014 insgesamt 128 Fälle, bei denen eine Entwicklungsverzögerung nach Impfungen bei Kindern berichtet werde; aber nur bei 17 der 128 Fälle sei ein MMR- beziehungsweise ein MMRV-(Kombination Mumps, Masern, Röteln plus Varizellen) Impfstoff verwendet worden; in keinem dieser genannten Fälle hätte ein Zusammenhang zwischen der Impfung und den geschilderten Beschwerden festgestellt werden können. Es habe scheinbare Studien über einen Zusammenhang zwischen MMR-Impfung und Autismus gegeben, die sich als wissenschaftlicher Betrug herausgestellt hätten und von den Autoren und der Fachzeitschrift, in denen dies postuliert wurde, zurückgezogen worden seien; auch in einer großen Review-Arbeit von 2014 hätten sich für einen Zusammenhang zwischen Autismus und MMR-Impfung keine Hinweise finden lassen.

Entwicklungsstörungen oder -verzögerungen seien häufige Symptome im Kindesalter, zusammenfassend habe eine kürzlich publizierte Untersuchung an Schulkindern Probleme im motorischen, sprachlichen und emotional-sozialen Bereich bei zwölf bis 20 Prozent der Kinder gefunden; auch eine große Studie in den USA habe ähnliche Ergebnisse gefunden (circa 15 Prozent der Kinder hatten eine Form von Entwicklungsverzögerung). Es bestehe also eine zeitliche Koinzidenz bei der Diagnose einer Entwicklungsverzögerung und dem Zeitpunkt der meisten Impfungen. Dies führe häufig bei den Eltern zur Vermutung eines Zusammenhangs; aktuell sei aber der Stand der Forschung, dass solche Rückschlüsse nicht zu begründen seien.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Impfung gegen Mumps, Masern und Röteln erfolgte im Alter von sechseinhalb Monaten. Da keine der (sehr seltenen) Ausnahmen von der Altersempfehlung der STIKO bestand, war die Impfung eindeutig zu früh und hätte bei sorgfältiger Beachtung des Lebensalters, der amtlichen Empfehlungen der STIKO wie auch der schriftlichen Anlage der Firma zum Impfstoff vermieden werden müssen. Allerdings wurde die Impfung von dem Kind gut toleriert, keine der bekannten Nebenwirkungen oder lokalen Impfreaktionen wurden in der Patientenakte beschrieben, auch bei der Zweitimpfung sind keine gesundheitlichen Probleme vermerkt. Die später bei der Vorsorgeuntersuchung U7 festgestellten und dann weiter differenzierten Entwicklungsverzögerungen sind nach derzeitigem Erkenntnisstand und der aktuellen Forschung sowie der Fachliteratur nicht durch Impfungen gegen Mumps, Masern und Röteln zu begründen. Zusammenfassend ist das Kind im vorliegenden Fall zwar zu früh gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft worden, aber weder der Zeitpunkt noch die Impfung selbst sind ursächlich für die später festgestellten, unterschiedlich benannten Entwicklungsverzögerungen oder den atypischen Autismus. Die Schlichtungsstelle hat Schadensersatzansprüche daher nicht als begründet angesehen.

Fazit

Während desselben Zeitraums werden einerseits Impfungen durchgeführt, andererseits aber auch gelegentlich kindliche Entwicklungsstörungen diagnostiziert – es empfiehlt sich, dies nur als zeitliche Koinzidenz zu werten.

Autoren:

Kerstin Kols, Ass. jur.

Dr. med. Ulrich Mutschler

Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover