Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

War die vergessene Harnleiterschiene mitursächlich für den schweren Krankheitsverlauf?

Kasuistik

Eine 77-jährige Patientin wurde mit unspezifischen Bauchschmerzen und Erbrechen in einer Klinik für Gastroenterologie stationär aufgenommen. Es wurde ein fortgeschrittenes Coecumcarcinom diagnostiziert mit computertomographischem Kontakt zu den rechten Adnexen und Verdacht auf Lymphknotenmetastasen.

Zehn Tage später erfolgte auf Empfehlung der Tumorkonferenz die Hemikolektomie rechts, nachdem präoperativ von der Urologischen Abteilung eine Harnleiterschienung wegen des engen Kontaktes des Tumors zum rechten Harnleiter durchgeführt worden war. Auch dies war von der Tumorkonferenz empfohlen worden. In dem OP-Bericht des Urologen wird folgendes Procedere erwähnt: „Bei klinisch unauffälligem Verlauf rate ich zur Entfernung der Harnleiterschienen in den kommenden zwei bis drei Wochen.“

Intraoperativ zeigte sich, dass der Coecumtumor an die rechten Adnexe herangezogen war und diese daher mitentfernt wurden. Im weiteren Verlauf traten Komplikationen auf mit operativer Behandlung eines Platzbauches drei Tage nach der ersten Operation und der operativen Versorgung einer Anastomoseninsuffizienz mit Anlage eines endständigen Ileostomas. Es folgten weitere Operationen. In der postoperativen Histologie ergab sich ein Coecumcarcinom mit Tumorstadium pT4b pN2 (8/22) L1 V1 Pn1 R1 im Bereich des meso-ovarialen Resektionsrandes. Der komplizierte weitere Verlauf machte Behandlungen sowohl auf der Intermediate Care-Station als auch auf der Intensivstation erforderlich.

Schon während der ersten stationären Behandlung bestanden Harnwegsinfekte, die eine entsprechende antibiotische Therapie erforderlich machten. In der nachfolgenden geriatrischen Behandlung erforderten die Harnwegsinfekte eine intravenöse antibiotische Therapie.

Sieben Monate nach dem ersten stationären Aufenthalt wurde die Patientin im reduzierten Allgemeinzustand mit Nierenversagen und Unterbauchschmerzen sowie persistierender Infektion der Harnwege mit Escherichia coli bei einliegenden Harnleiterschienen erneut stationär aufgenommen. Es erfolgte im Rahmen eines urologischen Konsils die Entfernung der Harnleiterschienen beidseits mittels Zystoskopie. Begleitet wurde der reduzierte Allgemeinzustand von einer transfusionspflichtigen Blutung des oberen Gastrointestinaltraktes und sonographischem Verdacht auf vergrößerte retroperitoneale Lymphknoten.

Die Patientin verstarb drei Wochen später mit hochgradig erhöhten Retentionswerten sowie deutlichen Infektwerten. Im Obduktionsbericht wurde der Progress des Tumorleidens mit Lymphknotenmetastasen paraaortal und zervikal beschrieben sowie als Todesursache eine eitrige Bronchitis mit lokal ausgeprägter, teils abszedierender Bronchopneumonie beidseits mit schmutzig-grünlich, bröckeligem Lungenparenchym und intraalveolärem Lungenödem angegeben. Im Bereich der Nieren wurden keine wesentlichen Entzündungen bei Zustand nach Anlage von Harnleiterschienen beschrieben.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Der Ehemann der verstorbenen Patientin beanstandete allgemein die ärztliche Behandlung und bat um genaue Überprüfung der Todesursache. In der nicht zeitgemäßen Entfernung der beidseits der Blase eingesetzten Harnleiterschienen sah er die eigentliche Ursache der zum Tode führenden zahlreichen und nicht mehr heilbaren Entzündungsherde im Körper.

Stellungnahme Krankenhaus

Es wurde seitens des Krankenhauses die späte Schienenentfernung bestätigt. Ferner wurden die wiederholten Harnwegsinfektionen bei der Patientin beschrieben. Es wurde hinterfragt, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Tod der Patientin  und der längeren Liegedauer der Harnleiterschienen gebe. Außerdem wurden Wege aufgezeigt, wie zukünftig erneute oder ähnliche Informationsverluste verhindert werden sollten: „Wir werden vor allem in unseren Operationsberichten und postoperativen Anordnungen explizit auf das Vorgehen mit intraoperativ eingelegten Harnleiterschienen hinweisen.“

Gutachten

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter, Facharzt für Chirurgie und Viszeralchirurgie, kommt zu folgenden Kernaussagen:

Im Belassen der beidseitigen Harnleiterschienen sei eine fehlerhafte Behandlung zu sehen, da von Seiten der Urologie ein Belassen dieser Schienen für zwei bis drei Wochen empfohlen worden sei. Durch das Belassen der Harnleiterschienen seien die Harnwegsinfekte durchgehend aufgetreten. Dies hätte durch das Entfernen der Schienen reduziert werden können. Weitere Behandlungsfehler erkennt der Gutachter nicht.

Der Tod sei nicht auf den Behandlungsfehler zurückzuführen. Der Tod sei durch eine eitrige Bronchitis mit lokal ausgeprägter, teilabszedierender Bronchopneumonie beidseits mit schmutzig-grünlich, bröckeligem Lungenparenchym hervorgerufen worden. Dies resultiere vor allem aus dem komplizierten Verlauf mit Platzbauch, Nahtinsuffizienz sowie Auflösung der Anastomose und begleitender umfangreicher Intensivbehandlung. Außerdem habe es sich bereits zum Zeitpunkt der ersten Operation um ein fortgeschrittenes Coecumcarcinom mit mehrfachen Lymphknotenmetastasen gehandelt. Das Eindringen des Tumors in den Bereich des meso-ovarialen Resektionsrandes habe sogar die Entfernung der Adnexe erforderlich gemacht. Zum Zeitpunkt des Todes hätten bereits Metastasen im Halsbereich bestanden.

Stellungnahme zum Gutachten

Der Ehemann war durch das Gutachten nicht überzeugt worden. Durch das Belassen der Harnleiterschienen sei das Nierenversagen begünstigt worden. Die durch die verbliebenen Harnleiterschienen verursachten Bakterienablagerungen seien die einzig diagnostizierte Ursache für das Entzündungsgeschehen, das zum Tod führte. Es solle geklärt werden, ob dies auch Ursache für die Pneumonie gewesen sei.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Schlichtungsstelle schloss sich dem Gutachter im Ergebnis an. Die Harnleiterschienen wurden fehlerhaft verspätet entfernt.

Anspruchsvoll war für die Bearbeiter des Falls die Beweislastverteilung einzuordnen und nachvollziehbar darzustellen. Grundsätzlich hat die Patientenseite sowohl Behandlungsfehler als auch den Ursachenzusammenhang zu beweisen. Etwas anderes gilt, wenn es zu Beweiserleichterungen kommt. Dies ist hier nicht der Fall. Das Beweismaß für den Ursachenzusammenhang ist bei der Primärverletzung die Gewissheit und bei den weiteren sekundären Schäden die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Der Behandlungsfehler ist ursächlich, wenn er nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Schaden in seiner konkreten Gestalt entfiele.

Aus Sicht der Schlichtungsstelle erfolgte die präoperative Harnleiterschienung sachgerecht vor der Operation eines weit fortgeschrittenen Coecumtumors mit Infiltration von Nachbarorganen sowie Tumorbefall von acht der insgesamt 22 entfernten Lymphknoten. Der Empfehlung der Urologen, die Harnleiterschienen in den kommenden zwei bis drei Wochen zu entfernen, wurde nicht entsprochen.

Nach Lage der Akten sind durch das Belassen der Harnleiterschienen durchgehend leichte bis schwere Harnwegsinfekte aufgetreten bis zur Entfernung der Schienen sieben Monate nach Einbringen derselben. Aus der wissenschaftlichen Literatur ist bekannt, dass Verstopfungen und Verkrustungen durch Biofilmbildung mit Steinbildung bei zu lange belassenen Harnleiterschienen auftreten können. Sie sollen daher regelrecht schon nach zwei bis drei Wochen entfernt oder gewechselt werden, insbesondere bei einer begleitenden Tumorerkrankung.

Gesundheitsschaden

Der persistierende schwere Harnwegsinfekt ist ein Teilaspekt der Aufnahme bei deutlich reduziertem Allgemeinzustand. Die Harnwegsinfektion hat den allein schon vorbedingten, reduzierten Allgemeinzustand und die zunehmende körperliche Schwäche verschlechtert. Diese Verschlechterung hätte durch rechtzeitiges Entfernen der Schienen vermieden werden können. Der Tod der Patientin ist jedoch nicht auf diesen Behandlungsfehler zurückzuführen. Er begründet sich durch den bereits zum Zeitpunkt der Operation fortgeschrittenen Tumor mit Infiltration in benachbarte Organe und Tumorbefall mehrerer Lymphknoten.

Der durch dieses fortgeschrittene Stadium der Erkrankung begründete komplizierte Verlauf mit mehrfachen operativen Eingriffen, der Anastomoseninsuffizienz mit einem langen Intensivaufenthalt sowie Problemen der Mobilisation und dadurch bedingter Lungenarterienembolie sowie einem zwischenzeitlich aufgetretenen Delir haben letztendlich dazu beigetragen, dass die eigentlich notwendige Chemotherapie nicht durchgeführt werden konnte. Deshalb konnte  sich der Tumor weiter ausdehnen, der letztendlich über einen zusätzlichen Flüssigkeitsverlust aller Wahrscheinlichkeit nach zum Tod durch eine schwere eitrige, teilabszedierende Bronchopneumonie geführt hat. Das Auftreten einer Pneumonie ist eine typische Komplikation in der Terminalphase schwerkranker Patienten. Auch das aus den Befunden der Pathologen ersichtliche Tumorstadium ist ein mitursächlicher Faktor für das hier nicht aufhaltbare Krankheitsgeschehen.

Fazit

Dieser Fall führt die Verständnisschwierigkeiten der juristischen Bewertung des Ursachenzusammenhangs zwischen Fehler und Schaden für die Beteiligten vor Augen. Durch einen intensiven Austausch von Ärzten und Juristen, wie er in der Schlichtungsstelle geschieht, konnte nachvollziehbar dargestellt werden, welche Schäden auf den Fehler und welche auf die Grunderkrankung zurückzuführen waren.

Der Ursachenzusammenhang ist zum einen der Grund für eine Haftung, weil nur ein Fehler, der zu einem Schaden führt, einen Haftungsanspruch auslöst. Er ist aber auch die Grenze für die Haftung, da nur soweit ein Anspruch entsteht, als sich das Fehlverhalten ausgewirkt hat. Erschwerend kommt hinzu, dass der Bundesgerichtshof (BGH) im Jahr 2000 entschieden hat, dass eine Mitursächlichkeit ausreicht (BGH Urteil vom 27.3.2000 VI ZR 201/99). Hinter dieser Entscheidung steht die Überlegung, dass derjenige, der einen gesundheitlich bereits geschwächten Menschen verletzt, nicht verlangen kann, dass man ihn so behandelt, als ob der Verletzte gesund gewesen wäre. In dem Fall hatte der BGH zu entscheiden, ob Schäden, die vom medizinischen Sachverständigen nicht als ausschließlich operationsbedingt, sondern auch als grundleidensbedingt bewertet wurden, als fehlerbedingt anzusehen waren. Im Fall, den der BGH zu entscheiden hatte, lag allerdings eine Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers vor. Wäre dies im von der Schlichtungsstelle zu entscheidendem Fall ebenso gewesen, wäre die Entscheidung möglicherweise eine andere gewesen. Die Arztseite hätte beweisen müssen, dass keine Mitursächlichkeit bestand.

Aber auch die Reaktion des Ehemannes auf die Ausführungen des Gutachters macht deutlich, dass die Vorstellung über Schadensursachen sehr unterschiedlich sein kann. Da sich der Ehemann auf die Entscheidung der Schlichtungsstelle hin nicht mehr geäußert hat, besteht die Hoffnung, dass die Entscheidung für ihn nachvollziehbar war.

Autoren:

Prof. Dr. med. Gerald Klose

Facharzt für Innere Medizin
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Dr. med. Manfred Giensch

Facharzt für Chirurgie
Ärztliches Mitglied
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Christine Wohlers, Rechtsanwältin

Juristin in der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Schaffartzik

Prof. Dr. med. Walter Schaffartzik

Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin sowie
Vorsitzender der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover