Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Zur Problematik manueller Therapie der Wirbelsäule

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 09/2001

Eine ständig zunehmende Zahl von Menschen mit der „Volkskrankheit“ Nacken- und Rückenschmerzen hat dazu geführt, daß auch die manuelle Therapie eine immer weitere Verbreitung findet. Dabei hat die Manualtherapie häufig sehr kurzfristige, allerdings auch kurzlebige Anfangserfolge zu verzeichnen.

Besprochen werden sollen in diesem Beitrag Maßnahmen, die die Wirbelsäule betreffen. Eine Manualtherapie der Extremitäten muß in einem weiteren Beitrag ihren Niederschlag finden.

Mit der Zunahme manueller Therapie der Wirbelsäule ergeben sich zwangsläufig auch Fehlergebnisse bzw. Mißerfolge, die sowohl Gerichte als auch die Schlichtungsstelle beschäftigen.

Von Seiten der Patienten, und die Zahl nimmt zu, wird grundsätzlich ein Erfolg einer Therapie erwartet. Tritt dieser gewünschte und erwartete Erfolg nicht ein, besteht eine zunehmende Tendenz, diesen für den Patienten unbefriedigenden Ausgang zu beklagen und damit Schlichtungsstellen bzw. Gerichte anzurufen.

Eine zweite Gruppe von Patienten verspürt nach manueller Therapie nicht nur keine Besserung, sondern eine Verschlechterung des Zustandes. Ebenfalls ein Grund zu Klagen und zu Beschwerden. Zusätzlich auftretende Symptome, die vorher noch nicht vorhanden waren, geben damit ebenfalls Anlaß, Gerichte und Schlichtungsstellen anzurufen.

Dabei werden im Rahmen der durch die Schlichtungsstelle veranlaßten Begutachtungen immer wiederkehrende Fehler und Probleme aufgedeckt, die zu begründeten Schadenersatzforderungen führen.

Vor Besprechung klassischer Fallbeispiele, die zu außergerichtlichen Vergleichen geführt haben, sind grundsätzliche Erläuterungen zur manuellen Therapie erforderlich. Grundlage hierfür bildet die Bingener Erklärung aus dem Jahre 1994.

In dieser Erklärung werden die Probleme der Qualitätssicherung, der Risikoaufklärung sowie der Dokumentation der Diagnostik und anschließenden Therapie klar herausgearbeitet.

Die Qualitätssicherung fordert die Erhebung einer lückenlosen Anamnese. Weiterhin eine gründliche allgemeine und gezielte manual-medizinische Untersuchung zur Stellung der Behandlungsindikation und zum Ausschluß von Kontraindikationen. Dabei werden eventuell Spezialuntersuchungen erforderlich.

Weiterhin wird gefordert eine Röntgenaufnahme von angemessener Aktualität in der Regel in zwei Ebenen bzw. in Abhängigkeit vom Krankheitsbild weitere bildgebende Verfahren.

Im Rahmen der Diagnostik wird auch die diagnostische Probemobilisation vor einer Manipulation gefordert. Bezüglich der Therapie an der Wirbelsäule wird die Forderung erhoben, nur am entspannt und korrekt gelagerten Patienten nach der Probemobilisation zu therapieren. Kontraindikationen werden ebenfalls angegeben in Form einer fehlenden Abwehrspannung oder auch unter Lokalanästhesie.

Bezüglich der Risikoaufklärung ist zu berücksichtigen, daß es bei der manual-medizinischen Behandlung extrem seltene Komplikationen und spezifische typische Risiken gibt, die auch bei größter ärztlicher Sorgfalt nicht restlos beherrschbar sind. Diese Risiken sind für den Patienten in der Regel überraschend und falls sie sich verwirklichen, können sie die Lebensführung schwerwiegend beeinträchtigen.

Aus diesem Grunde ist der Patient entsprechend den Anforderungen der Rechtsprechung aufzuklären. Der Beweis der ordnungsgemäßen Aufklärung liegt beim behandelnden Arzt.

Von großer Bedeutung ist die Dokumentation der Behandlung. Diese muß – so lautet die Forderung – zeitnah, ausreichend, nachvollziehbar bezüglich der einzelnen Vorgänge und für andere Ärzte verständlich sein. Berücksichtigt werden muß auch, wie es Tilscher bereits im Jahre 1984 getan hat, daß die Zahl der älteren Menschen die mit Beschwerden in unsere Behandlung kommen, zunimmt, hier aber manipulatorische Eingriffe häufig kontraindiziert sind. Damit ist für diesen Kreis von Patienten die Mobilisationstechnik in vielen Fällen wesentlich bedeutsamer.

Exemplarisch für eine größere Zahl entschädigungspflichtiger therapeutischer Maßnahmen werden einige typische Fälle der manuellen Therapie dargestellt.

Fall 1

Aufgrund massiver Beschwerden im Bereich der Brustwirbelsäule erfolgte Injektionsbehandlung sowohl durch den Notarzt als auch durch den später behandelnden Orthopäden. Bei der 78 Jahre alten Frau wurde nach der erfolglosen Injektionsbehandlung eine Traktionsmobilisation der Wirbelsäule durchgeführt. Dabei kam es zu einer Sternumfraktur im Bereich des Corpus sterni.

Da bei der 78 Jahre alten Frau bereits osteoporotische fischwirbelartige Verformungen im Bereich der Brustwirbelsäule vorlagen, ist durch den Gutachter die Indikation für die chirotherapeutischen Maßnahmen verneint worden. Dieses korrespondiert mit der oben ausgeführten Aussage von Tillscher aus dem Jahre 1984.

Der Gutachter kommt in seiner Zusammenfassung zu der Ansicht, daß die Sternumfraktur als Folge der chirotherapeutischen Maßnahmen anzusehen ist und geht davon aus, daß von einer vermehrten Schmerzsymptomatik in Folge der Fraktur für sechs Wochen auszugehen ist.

Fall 2

Im Falle eines 29 Jahre alten Mann bestanden zum Zeitpunkt des Therapiebeginns Halswirbelsäulenbeschwerden seit ca. 1 ½ Jahren. Diese gingen einher mit Ausstrahlungen in die rechte Schulter. Die Untersuchung erfolgte manualtherapeutisch nach den Richtlinien der Deutschen Chirotherapiegesellschaft in korrekter Weise mit Dokumentation der Befunde. Diese Befunderhebung war, wie der Gutachter feststellt, allerdings deutlich unzureichend, da ein Befund über das Bewegungsausmaß ebenso fehlte, wie ein Befund über die Stabilitätsverhältnisse im Bereich der Halswirbelsäule. Auch ein peripherer neurologischer Status fehlte in dieser Dokumentation. Weiterhin fehlte anläßlich der Konsultation eine Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule in zwei Ebenen. Diese fehlende Befunderhebung war als fehlerhaft einzustufen.

Bezüglich der Frage, ob lediglich eine mobilisierende Probebehandlung durchgeführt wurde oder eine chirotherapeutische Manipulation, mußte auf die einzig vorhandene Dokumentation in Form einer Abrechnungsziffer, die eine chirotherapeutische Manipulation beinhaltet zurückgegriffen werden. Somit war hier ohne vorherige Röntgenuntersuchung und begleitende unzureichende klinische Befunderhebung eine chirotherapeutische Manipulation der Halswirbelsäule durchgeführt worden.

Nachgewiesen wurde bei einer 8 Tage später durchgeführten computertomographischen Untersuchung ein Bandscheibenprolaps im Segment C 4/C5.

Die Ausbildung einer Diskushernie im Rahmen der Chirotherapie gilt als wissenschaftlich bekannte, allerdings auch seltene Komplikationsmöglichkeit. Eine Tatsache, die der Gutachter expressis verbis betont. Er läßt offen, ob dieser cervikale Bandscheibenvorfall durch die Therapie ausgelöst wurde oder ob er bereits vorher bestand. Dabei wird auch die spontane Verlagerung von Bandscheibengewebe im zufälligen zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung betont. Da aber, wie bereits ausgeführt, die chirotherapeutischen Maßnahmen ohne vorherige Röntgenuntersuchung und ohne ausreichende klinische Befunderhebung stattgefunden haben, kann auf dem Wege von Beweislasterleichterungen zugunsten der Patientenseite zu der haftungsrechtlichen Folge, daß eine fehlerbedingte Beschwerdesymptomatik für den Zeitraum von ca. 8 Wochen angenommen und Schadenersatzansprüche bejaht wurden.

Fall 3

Bei einer 34 Jahre alten Frau bestanden Schmerzen im Bereich der linken Schulter und des linken Armes. Diagnostiziert wurden Blockierungen der Wirbel mit anschließender Chirotherapie. Nach kurzer Beschwerdefreiheit für ca. 1 Tag traten die Beschwerden erneut mit erheblicher Intensität auf. Die phlebographische Untersuchung ergab dann das Vorliegen einer Schulter-Arm-Venenthrombose.

Neben dieser Diagnose wurde später ein Labrumabriß im Bereich der linken Schulter und eine Kapselüberdehnung des Schultergelenkes diagnostiziert.

Das in Auftrag gegebene Gutachten stellt eine Falschbehandlung in zweierlei Hinsicht fest. Die Chiropraktik wurde ohne ausreichende Diagnostik durchgeführt, die Ursache der Erkrankung nicht richtig erkannt. Von Seiten des Gutachters wird die verspätete Diagnose eines Gefäßprozesses ebenso wie die Verletzungsfolge im Schultergelenk als Folge unsachgemäßer Behandlung angesehen.

Fall 4

Bei einer 48 Jahre alten Frau kam es nach einem Unfall mit Sturz auf das Gesäß zu Beschwerden. Es wurde eine Beckenprellung mit Stauchung der Lendenwirbelsäule diagnostiziert. Röntgenologische Zeichen einer Fraktur bestanden zu diesem Zeitpunkt im LWS-Bereich nicht.

Im Rahmen der weiteren Therapie wurden mehrfache Manipulationen sowohl durch den behandelnden Arzt als auch durch den Krankengymnasten vorgenommen. Erst eine ca. 4 Monate nach dem Unfall durchgeführte Ganzkörperszintigraphie ergab die Diagnose einer Wirbelfraktur im Brustwirbelsäulenbereich. Mehrfache Hinweise der Patientin auf Beschwerden im Brustwirbelsäulenbereich wurden vom behandelnden Arzt als Blockierungen gedeutet, ohne daß neue Röntgenaufnahmen der Brustwirbelsäule durchgeführt wurden.

Der Gutachter kritisiert die Tatsache, daß der Beschwerdesymptomatik im Bereich der Brustwirbelsäule keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde und daß eine Röntgenaufnahme entsprechend unterblieb.

Unzureichende klinische Befunderhebung, aber auch fehlende Durchführung einer Röntgenaufnahme der Brustwirbelsäule wurden sowohl vom Gutachter als auch von der Schlichtungsstelle als fehlerhaft angesehen und die Zeit der Schmerzhaftigkeit und der allgemeinen Beeinträchtigung als Folge der nichtadäquaten Therapie mit sechs bis acht Wochen angenommen.

Die hier dokumentierten Fälle stellen nur eine kleine Zahl der in der norddeutschen Schlichtungsstelle positiv beschiedenen Anträge dar.

Dabei muß abschließend nochmals betont werden, daß bei chirotherapeutischen Maßnahmen die geforderten klinischen Untersuchungen einschließlich der exakten Dokumentation auch der durchgeführten Maßnahmen eine Conditio sine qua non darstellen. Ebenso ist der Aufklärung erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen, da auch schwerwiegendere Folgen eintreten können.

Besonders im Hinblick auf die Altersstruktur der Patienten mit Beschwerden im Bereich der gesamten Wirbelsäule muß auch das Problem Mobilisation, respektive Manipulation immer wieder in den Vordergrund der therapeutischen Überlegungen nach exakter Untersuchung einschließlich bildgebender Verfahren und Aufklärung an den Beginn der Therapie gestellt werden.

Autoren:

G

Prof. Dr. med. Groher

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

HP

Dr. med. Hans Püschmann

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover